Meine Mutter kann essen, sich waschen, reden, ein Stückchen an meinem Arm gehen. Der große Rest ist schwierig geworden. Sie ist deutlich gebrechlicher als vor zwei Jahren und inzwischen dement. "Sie sollten", empfahl mir das Heim in dem sie seit über einem Jahr lebt, beim Arbeits- und Sozialgericht Wien "die höhere Pflegestufe einklagen, also Pflegestufe 4." Mit dieser Klage auf Anhebung auf Pflegestufe 4 bin ich abgeblitzt.
Dement, gebrechlich, alt: Klage auf höhere Pflegestufe abgewiesen
Meine demente Mutter braucht eine höhere Pflegestufe, sagt das Heim, in dem sie lebt. Ich habe beim Sozialgericht Klage auf Anhebung der Pflegestufe eingereicht, musste sie aber zurückziehen - ein Erfahrungsbericht.
Verhandlung am Arbeits- und Sozialgericht
Die Richterin kommt in der Verhandlung auf einen Pflegebedarf von 156 Stunden. Ab 161 Stunden gilt Pflegestufe 4. Sie müsse, sagt sie mir, meine Klage zurückweisen. Knapp daneben ist auch vorbei. Berufung gegen das Urteil scheint mir wenig sinnvoll, da die nächste Instanz in dem Fall nur prüft, ob das Verfahren formale Mängel hat. Die sehe ich nicht. Das Gerichtsgutachten des Arztes zum Pflegebedarf schien mir korrekt zu sein. Unklar ist, wie es zu interpretieren wäre und genau hier liegt der Hund begraben. Die Umrechnung von medizinischen Diagnosen in Pflegebedarf und jene vom Pflegebedarf in eine Pflegestufe erfolgt, das musste ich nun vor dem Sozialgericht erfahren, über eine sogenannte Einstufungsverordnung. Sie definiert mit Standard-Stundensätzen wie viele Betreuungsstunden einer bestimmten medizinisch-pflegerisch-geriatrischen Diagnose entsprechen. Sie übersetzt also die ärztliche Begutachtung in Pflegeaufwand. Und der ist 156 Stunden und 156 Stunden sind zu wenig für Pflegestufe 4.
Pflegeprotokoll des Heimes zählt nicht
Warum das Gericht die Pflege-Aufzeichnungen des Heimes nicht berücksichtige, frage ich die Richterin. Sie meinte minimal verunsichert: 1. Hat der Gutachter die Aufzeichnungen des Pflege-Heimes geprüft (angesehen). 2. (Und hier schon wieder viel sicherer) muss sie als Richterin die Stunden der Verordnung nehmen und nicht die des Heimes.
Standard-Zahlen aus der Verordnung
Die können, das hat sie zugestanden, real durchaus höher sein: „In manchen Heimen wird ein Insasse einmal pro Tag geduscht, in anderen zwei Mal. Die haben dann real höhere Aufwände. Ich als Richterin muss aber die Standard-Zahlen aus der Verordnung nehmen.“
Die Richterin ist offen und korrekt. Sie anerkennt: „Das war knapp, aber auf Basis der Verordnung muss ich so entscheiden.“
Gutachten ist korrekt
Rückblick an den Beginn der Verhandlung: Am Beginn kann ich meine Argumente vorbringen und die Demenz und Gebrechlichkeit meiner Mutter beschreiben. Ob ich etwas zum Gutachten sagen möchte? Mir scheint das Gutachten überwiegend korrekt zu sein. Ich könne daraus aber keine Aussagen über die Pflegestufe ableiten.
Oberkiefer stirbt ab
In meiner Aussage betone ich, dass meine Mutter eine Oberkiefernekrose hat. Der Knochen stirbt ab, eine Nebenwirkung eines Krebsmedikaments, entweder Faslodex oder Zometa. Dieser absterbende Oberkiefer erschwere die Ernährung (sollte sie sich verschlechtern). Die Richterin hakt da ein: Wenn ich meine Klage zurückziehe und sich die Lage meiner Mutter verschlechtere („etwa wenn ihre Mutter wegen der Nekrose mehr gefüttert werden müsste“) "können sie sofort eine Einstufung in Pflegstufe vier beantragen."
Ein Jahr Sperrfrist
Wenn aber sie die Klage abweist, das negative Urteil ausfertigt, dann müsste ich mit einem neuen Antrag auf Erhöhung der Pflegestufe mindestens ein Jahr warten („Sperrfrist“).
Möchte die Verordnung lesen
Zum Schluss bitte ich die Richterin um die Verordnung: "Die möchte ich lesen“. Meine Bitte sorgt im Gerichtssaal für Unruhe und Erstaunen. "Sind sie Jurist?" "Nein." Ich möchte spontan fragen: Würde ein "Ja" irgendetwas etwas ändern?
Zuruf aus den hinteren Reihen
Hab es aber dann bleiben lassen. Leicht gehässiger Zuruf aus den hinteren Bankreihen des Gerichtssaals: „Na, dann schauen sie halt im RIS nach!“ Ich kenne das Rechtsinformationssystem des Bundeskanzleramtes (RIS). Laien können damit aber sicher nichts anfangen. „Wie finde ich die Verordnung im RIS?“ frage ich und: „Wonach soll ich suchen?“ Nach einigem Zögern hält mir die Richterin ihren dicken Gesetzeswälzer hin und ich darf mir den Titel abschreiben („Einstufungsverordnung BPGG Einstufung V“).
Protokoll und Kosten
Ich bekomme, so habe ich das verstanden, ein Protokoll der Verhandlung. Nicht gefragt habe ich nach den Gerichtskosten, die dürften aber der Pensionsversicherungsanstalt angelastet werden. Gesamteindruck: Das Gerichtsverfahren erscheint mir im Großen und Ganzen fair gewesen zu sein. - Obwohl ich etwa einmal im Monat beruflich im RIS etwas suche und finde: Die Einstufungsverordnung zur Pflege ist mir trotz mehrfacher Versuche im RIS nicht untergekommen.
RIS: Suche in der Rechtsdatenbank
Bei einem neuerlichen Versuch werde ich dann fündig, nämlich hier: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10009142. Weitere Onlinerecherchen liefern Bruchstücke (http://cd.manz.at/rechtaktuell/pdf/Pflegegeld_3A_102_110.pdf) aber kein verständliches Bild. Ich muss wohl weiterrecherchieren.
"Derzeit abweisend": Gerichtslyrik im Protokoll
Wenn man einen Text versteht und er reimt sich, ist es Lyrik. Wenn man ihn nicht versteht und er reimt sich nicht, ist es moderne Lyrik. Und wenn man das Ganze schwer versteht und die Grammatik torkelt, dann ist es moderne Gerichtslyrik. - Hier ein Beispiel aus dem Protokoll dieser Verhandlung:
"Nach Erörterung der Sach- und Rechtslage,
dass derzeit hier weiter Pflegegeld der Stufe 3 Anspruch besteht,
die nach der Einstufungsverordnung und Rechtssprechung
und die Möglichkeit erläutert werden,
nämlich Urteilserlangung,
derzeit abweisend,
weil eben die 4er Stufe nicht erreicht wird und Klagsrückziehung,
wo man jederzeit wieder einen neuen Antrag stellen kann,
zieht der KV die Klage zurück."
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KONSUMENT-BUCH: Der Pflege-Ratgeber
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