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Müllcontainer mit Lebensmittelabfällen
Dumpstern ist ein rechtlicher Graubereich. Was Menschen dazu motiviert, haben wir mit Dumpsterern in Salzburg erkundet. Bild: ArieStudio / Shutterstock.com

Mülltauchen/Dumpstern: Auf Schatzsuche

Warum fischen Menschen Lebensmittel aus Containern? Wir haben uns in Salzburg mit Dumpsterern auf die Suche nach Antworten gemacht.

Erik Schnaitl ist bereit. Seine Atemschwaden steigen im Licht der Stirnlampe in die kalte Nachtluft auf. Auf seinem Fahrradanhänger stehen zwei gelbe Kisten. Der 45-Jährige streift sich ein Paar Handschuhe über die klammen Finger und schiebt den Müllcontainer auf der Freifläche hinter einer Supermarktfiliale am Rande Salzburgs auf. Er ist randvoll. Karotten und Bananen liegen auf Paprika, um zwei Melanzani verstreut ein Dutzend Äpfel, darunter zwei Zuckermelonen.

"In Plastik verpackt wird Gemüse schneller schlecht", meint Erik Schnaitl und entfernt die Plastikhülle und laschen Blätter um ­einen Salatkopf. Dann fischt er einen Strauß Blumen aus dem Container, ­lächelt und sagt: "Darüber wird sich meine Frau freuen."

Wenig offizielle Zahlen

Wie lange Menschen in Österreich schon „dumpstern“, „mülltauchen“ oder „containern“ ist nicht bekannt. Medienberichte, auch über Erik Schnaitl, kur­sieren seit zehn Jahren. Auch wie viele es ihm gleichtun, ist kaum festzumachen. Offizielle Zahlen oder Vereinigungen gibt es nicht, dafür lockere Gruppen, ­etwa auf Facebook. Die größte befindet sich in Wien und zählt über 9.100 Mitglieder, dazu kommen ein Dutzend ­weitere in Bezirken oder Landeshauptstädten. Lokal finden Dumpsterer auch über Messenger wie Signal und Telegram zusammen, ziehen mit anderen oder allein aus.

Dürfen die das?

Ob das legal ist, hängt vom konkreten Fall ab. Dumpstern ist ein rechtlicher Graubereich. Verschafften sich Menschen Zugang zu verschlossenen Müllräumen, ist dies Einbruchdiebstahl. Auch die Vervielfältigung eines Generalschlüssels, etwa des Wiener Einheitszylinders 2000, kann strafbar sein. Ein Postschlüssel ist hingegen frei erhältlich, da sein Patent abgelaufen ist. Laut StGB macht sich zudem strafbar, wer eine bewegliche Sache einem anderen mit dem Vorsatz wegnimmt, sich unrechtmäßig zu bereichern.

Legalisierung nicht in Sicht

Vor Gericht kommt es meist auf Qualität und Menge der Lebensmittel an. So hat eine braune ­Banane wenig monetären Wert. Liegt sie im Container, gehört sie dem Abfallentsorgungsunternehmen. Entnimmt man sie, vermindert man allerdings den Heizwert, den das Entsorgungs­unternehmen in der Kompostieranlage generieren würde. Zu Anzeigen kam es schon, zu Verurteilungen gibt es keine Daten. Eine Legalisierung, wie sie in Deutschland diskutiert wird, plant das zuständige heimische Klimaministe­rium nicht.

Was sagen die Supermärkte?

"Ich habe keinen Schlüssel und hätte auch keinen Bedarf, mir Zutritt zu verschaffen", erzählt Thomas Beck, der mehrmals die Woche in Salzburg auszieht. Alles so zu hinterlassen, wie er es vorgefunden hat, ist ihm wichtig. Das gebe er auch Menschen weiter, die ihn auf seinen Dumpster-Touren begleiten, erzählt der 29-Jährige.

Entstehen keine Verunreinigungen, dulden viele Konzerne die Entnahme von Lebensmitteln aus Containern. Bedingung sei, so schreibt etwa Spar, dass die Ordnung gewahrt bleibt. Abgesehen von einigen Fällen in Wien, wo es zu groben Ver­unreinigungen kam, verhielten sich Dumpsterer sauber und gewissenhaft, so der Konzern in einem Fact-Sheet. Haftung übernehmen die Supermarktketten nicht.

Schimmel-Gefahr

Denn auch wenn Karotten und Co noch gut riechen und aussehen, können sie schädlich sein. "Besonders Schimmelpilze fühlen sich in wasserreichen Lebensmitteln wohl. Einige können giftige Stoffwechselprodukte bilden, die auch durch Kochen oder Einfrieren nicht weggehen", erklärt VKI-Lebensmittelexpertin Teresa Bauer.

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Küche mit gerettetem Obst und Gemüse durch Dumpstern
Dumpstern: im Focus liegen Obst und Gemüse | Bild: Erik-Schnaitl
Küche mit gerettetem Obst und Gemüse durch Dumpstern
Dumpstern: gerettete Ware einer Nacht | Bild: Erik-Schnaitl
Durch Dumpstern geretteter Blumenstrauss
Dumpstern: auch Blumen finden sich immer wieder | Bild: Erik-Schnaitl
Küche mit gerettetem Obst und Gemüse durch Dumpstern
Dumpstern: im Focus liegen Obst und Gemüse | Bild: Erik-Schnaitl
Küche mit gerettetem Obst und Gemüse durch Dumpstern
Dumpstern: gerettete Ware einer Nacht | Bild: Erik-Schnaitl
Durch Dumpstern geretteter Blumenstrauss
Dumpstern: auch Blumen finden sich immer wieder | Bild: Erik-Schnaitl

Das Robin-Hood-Gefühl

Warum tut man das? Thomas Beck hat aus Interesse und aus Kostengründen das erste Mal vor acht Jahren gedumpstert. "Heute ist es auch ein Gefühl wie aktivistisches Schatzsuchen", sagt er. Als Erik Schnaitl begonnen hat, tat er es auch des Geldes wegen. Heute ist er in einem sicheren Vollzeitjob und geht viel seltener Dumpstern.

Einen Teil seiner Ausbeute gibt er weiter, etwa an eine Mindestpensionistin. Auch eine Wiener Studentin, die anonym bleiben möchte, hat Essen oft an Verwandte weitergegeben. "Ich hatte keine Sekunde lang ein schlechtes Gewissen. Dumpstern gab mir ein Robin-Hood-Gefühl", sagt sie. Dieses manifestiert sich auch im ­Namen einer Wiener Bewegung, die aus Containern gerettetes Essen für einen guten Zweck verkocht: Robin Foods.

Vermeidbare Lebensmittelabfälle bald Geschichte?

Doch braucht es solche Aktionen? Die Zahlen zeigen: Österreich verschwendet zu viel. Zwischen 790.000 und einer Million Tonnen "vermeidbare Lebensmittelabfälle" fallen jährlich an, rund ein Zehntel aus dem Lebensmittelgroß- und einzelhandel.

Frankreich hat diesen schon 2016 gesetzlich verpflichtet, Verträge mit Organisationen zu unterzeichnen, die Lebensmittel retten – finanzielle Sanktionen inklusive. Hierzulande steht ein Verbot im Regierungsprogramm. Bis es Realität wird, müssen unter anderem Kapazitätsprobleme bei sozialen Einrichtungen behoben werden.

Freiwillige Kooperationen

Aktuell halten elf Lebensmitteleinzelhandelsunternehmen unter dem Aktionsprogramm "Lebensmittel sind kostbar" freiwillige Vereinbarungen mit dem Klimaschutzministerium. Sie müssen aussortierte Ware an eine soziale Einrichtung, die Gastronomie oder Tier­futterindustrie weitergeben. Im Jahr 2020 flossen nach eigenen Angaben der ­Unternehmen rund 20.000 Tonnen in den menschlichen Verzehr und rund die Hälfte in die Tierfuttermittelproduktion. Auch über die App "Too Good To Go" wurden im vergangenen Jahr rund 3,6 Millionen Sackerl mit unverkäuflichen Lebensmitteln gegen wenige Euro abgeholt. Rund 3.500 der Partnerunternehmen kamen aus dem Lebensmitteleinzelhandel.

Wurde es besser?

Merken die beiden diese Initiativen? "Ich nehme an, dass es in den vergangenen Jahren etwas weniger geworden ist. Aber wir finden immer noch eine Menge", sagt Thomas Beck. Auch Erik Schnaitl kommt vor, er finde etwas ­weniger als früher. Innerhalb von zehn Wochen im Jahr 2021 füllte er mit anderen Leuten Dutzende Kühlschränke, fand etwa über 240 Kilogramm Obst und 40 Kilogramm Milchprodukte. "Dumpstern ist meine kleine Kritik am ineffizienten Lebensmittelsystem", sagt Erik Schnaitl. Denn die Produktion dieser Nahrung verbraucht Wasser, Sprit und Dünger. Alles umsonst, landet sie im Müll.

Thomas Beck begegnet beim Mülltauchen vielen Studierenden und älteren Menschen. "Es gibt so viele, die vom Dumpstern profitieren könnten, auch wegen der Teuerung", ist er überzeugt. Der 29-Jährige hätte nichts dagegen, würde Überflüssiges direkt an die Menschen gehen, die es brauchen. Bis dahin verfeinert er seine Onlinekarte, die zugängliche Container in Salzburg auflistet, klärt auf und hofft, dadurch den Druck auf die heimische Politik zu steigern.

Große Ziele, fehlende Daten

Dieser kommt auch von anderer Stelle. Laut UNO-Unterziel 12.3. muss Österreich bis 2030 die Lebensmittelverschwendung in Konsum und Handel halbieren und in der Produktion verringern. Dazu brauche es einen "Kraftakt der betroffenen Branchen und der Bevölkerung", schrieben Expert:innen einer interministeriellen Koordinierungsstelle, die seit Juni 2021 an dem Problem arbeitet. Ein Aktionsplan, wie der Kraftakt aussehen könnte, ist ausständig, soll aber im Frühjahr 2023 präsentiert werden. Bisweilen bleibt ein weiteres Problem: Daten über Verluste in Produktion und Herstellung fehlen. Ob das Ziel erreichbar ist, lässt sich darum aktuell nicht beantworten.

Sechs Prozent weniger Treibhausgase möglich

Dabei würden zielgerichtete Maß­nahmen helfen, katastrophale Klimafolgen abzuwenden. Aktuell verursacht die Lebensmittelverschwendung rund sechs Prozent der EU-Treibhausgasemissionen.

Das weiß auch Erik Schnaitl. Er spannt die grüne Plane fest über die Kisten, in denen sich Spitzpaprika, Äpfel, Bananen und Co drängen, packt seine Stirnlampe in die Hosentasche und schwingt sich aufs Rad. Eine Stunde später schickt er Fotos über WhatsApp: eines von den Unmengen gedumpsterten Obsts und Gemüse, gewaschen und sortiert auf der heimischen Küchen­zeile. Ein weiteres vom Blumenstrauß in einer Vase auf dem Tisch. Eine kleine Achtsamkeit im Protest gegen ein System, das Unmengen an Wertvollem verschwendet.

Cartoon: Rosch über das Dumpstern

Junge Menschen klettern in einen Müllbehälter, um nach brauchbaren Lebensmitteln zu suchen
Dumpstern: Warum suchen Menschen im Müll nach Lebensmitteln? Bild: Robert Scheifler - Rosch/VKI

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