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Bio-Lebensmittel - Hinter der Idylle

Das Geschäft mit Bio-Lebens­mitteln brummt. Doch die ­heile Welt der glücklichen Hühner hat Risse bekommen. - Zwei kritische Bücher sorgen für Diskussionen.

Karl Schweisfurth war einmal der größte Fleischverarbeiter Europas. Auf seinen Schlachtbänken landeten pro Woche 25.000 Schweine und 4.000 Rinder. Irgendwann hatte der Wurstbaron vom blutigen Massengeschäft "die Schnauze voll", wie er der ­Tageszeitung "Kurier" Anfang dieses Jahres anvertraute.

Er verkaufte sein Imperium an den Nestlé-Konzern; und später die österreichische Firma Stastnik, bekannt für ihre Dauerwürste, an das Wiener Unternehmen Radatz. Das Vermögen aus diesen Deals steckte er in eine Stiftung, die sich mit der Frage beschäftigt, wie man "besser im ­Einklang mit der Natur leben kann".

Gammelfleisch, Kunstkäse, Pferdefleischskandale

Nicht nur ein ehemaliger prominenter ­Fleischindustrieller hat die Nase voll: Auch immer mehr Konsumenten reicht es. Gammelfleisch, Kunstkäse und zuletzt der Pferdefleischskandal ließen die Emotionen hoch­gehen. "Trau, schau, wem?", fragen sich viele Kunden, wenn sie ratlos vor über­quellenden Regalen stehen und sich entscheiden müssen, welchem Produkt oder besser ­Werbespruch sie vertrauen.

Vorzüge von Bio-Produkten

Von dieser Unsicherheit profitiert vor allem der Bio-Markt. Oder, wie es Martina Hörmer, die Geschäftsführerin von Ja! Natürlich, der Bio-Eigenmarke des Rewe-Konzerns, ausdrückt: "Durch Skandale werden auch immer wieder die Vorzüge von Bio in den Fokus ­gerückt." Dass die Botschaft bei den Kunden ankommt, zeigen die Verkaufszahlen, die im letzten Jahr weiter zu­legen konnten. Und ein Ende dieses Trends ist nicht in Sicht.

Supermärkte groß im Geschäft

Nur bei Wurst und Schinken sowie Fleisch und Geflügel halten sich die Käufer noch zurück, weil diese Produkte deutlich teurer sind als konventionell her­gestellte Ware. Dafür wanderten 2012 für Milch, Eier und Joghurt aus biologischer ­Erzeugung gleich einmal 85 Millionen Euro in die Kassen der Supermärkte, wie die AMA (Agrarmarkt Austria) ausrechnete. Und genau davon hat wiederum Clemens Arvay die Nase gestrichen voll.

"Der große Bio-Schmäh"

Clemens wer? DI Clemens Arvay, 1980 in der Steiermark geboren, studierte in Wien und Graz Biologie sowie angewandte Pflanzenwissenschaft. Nach einem Gastspiel bei der Umweltorganisation Global 2000 heuerte er bei Zurück zum Ursprung, der Bio-Eigen­marke von Hofer, als Qualitätsmanager für Obst und Gemüse an. Was er dort sah und ­erlebte, gab ihm die Idee für ein Buch, das 2012 unter dem Titel "Der große Bio-Schmäh" erschien.


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Nachteile industrieller Bio-Produktion

"Abstand zur konventio­nellen Landwirtschaft ..."

"Alles, was Sie im Supermarkt kaufen, ist ­Industrie-Bio", sagt der vom Saulus zum ­Paulus gewandelte Karl Schweisfurth und betrachtet mit Sorge, wie immer mehr Bio-Produkte in immer größere Regale geschlichtet werden. Clemens Arvay geht noch einen Schritt weiter. Für ihn lässt sich der Unterschied zwischen Bio aus den Filialen der großen Handelsketten und Lebensmitteln aus herkömmlicher Produktion kaum mehr ausmachen.

"... ist viel zu gering"

"Der Abstand zur konventio­nellen Landwirtschaft ist viel zu gering!" Vor allem, was sich bei der Tierhaltung abspielt, hat in seinen Augen mit nachhaltig und ­umweltbewusst nichts mehr zu tun. Die Bio-Eier kommen statt von alten Rassen von hochgezüchteten Hybridhennen. Weil in die Ställe zwar etwas weniger, aber seiner Ansicht nach noch immer viel zu viele Tiere gepfercht werden, müssen selbst Bio-Mäster Anti­biotika einsetzen, um ihre Herde bis zum Schlacht­termin durchzubringen.

Verängstigte Tiere, Großschlachthöfe, brutale Methoden

Und am Ende eines kurzen Lebens werden auch hier völlig ver­ängstigte Tiere auf Großschlachthöfen von schlecht bezahltem Personal, das im Akkord schuftet, mit brutalen Methoden in die rotierenden Messer und vor den Schlachtschuss­apparat getrieben.

 

Wenige Großproduzenten, Hybridzüchtungen

Nicht weniger industriell, sagt Arvay im ­Gespräch mit KONSUMENT, geht es im Bio-Landbau zu. Auch hier wird mit Hybrid­züchtungen das große Geschäft gemacht. Für ihre Bio-Marken bauen die Handelsriesen eigene Obst- und Gemüsebetriebe auf, sodass der ganze Markt von einigen wenigen Groß­produzenten bedient wird.

Csardahof der Familie Dichand

Eines der größten Unternehmen ist hier der Csardahof der ­Familie Dichand, die auch die "Kronen Zeitung" und das Gratisblatt "Heute" herausgibt und damit ordentlich Geld verdient. Mit sehr wenig Geld gehen dagegen diejenigen nach Hause, die auf den hektargroßen Feldern dieses Hofes von April bis November bei jeder Witterung im Einsatz sind.

Kritiker und Verräter 

Geschäftsführer am Csardahof, wo exklusiv für die Bio-Marke Zurück zum Ursprung von Diskonter Hofer produziert wird, ist übrigens Werner Lampert, Erfinder von Ja! Natürlich, der auch über andere Schienen nach wie vor dick im Bio-Geschäft ist. Äußert sich Lampert zu den Aktivitäten seines ehemaligen Mitarbeiters? "Erst hat er mich als Ver­naderer beschimpft, was ja nichts weniger als Ver­räter heißt", berichtet Arvay. "Jetzt tritt er auf einmal selbst als Kritiker der Indus­triali­sierung der Bio-Landwirtschaft auf."

Von der Idee zum großen Geschäft

Was schiefläuft im System, wer hier die Täter und wer die Opfer sind, ist für Clemens Arvay vollkommen klar. Seine Kritik richtet sich nicht gegen die biologische Landwirtschaft an sich, sondern gegen den Handel und seine Wirtschaftsweise. "Die Lebensmittelkon­zerne ­haben kein Interesse, die ökologische Landwirtschaft ernsthaft weiterzuent­wickeln. Sie missbrauchen die Idee dahinter und machen die Bauern zu Vertrags-Knechten, um Profite zu erwirtschaften."

Was ­heute in den Supermärkten als bio verkauft wird, sind für ihn die konventionellen ­Lebensmittel der Zukunft. Die derzeitige ­herkömmliche Produktionsweise kommt für Arvay überhaupt nicht mehr in Betracht.

Die Macht der Konzerne

Und was ist mit den Konsumenten? Auch auf den biologisch bewirtschafteten Feldern und später bei den Packstellen wird aussortiert, weil bei der Ware irgendetwas nicht passt – zu groß, zu klein, zu krumm. Nur die schönsten Sachen dürfen ins Regal. Auch das geht nach Ansicht von Clemens Arvay zulasten des Handels, denn "die Konzerne haben die Kunden dahin erzogen, sich so zu verhalten", nämlich nur formschönes Obst und Gemüse einzusacken.

Einkauf beim örtlichen Bauernladen

Wohin geht eigentlich der derzeitige Lehr­beauftragte am Joanneum Graz selber einkaufen? In den örtlichen Bauernladen, denn: "Der hat auch Produkte, die es im Supermarkt nicht gibt." Und außerdem: "Ich muss nicht immer alles haben. Jede Jahreszeit hat ihr spezielles Ernährungsprofil."

Arvay hat inzwischen im Südburgenland ein Haus gemietet und einen Acker gepachtet. Dort baut er, wenn er nicht gerade auf Lesereise ist, alte Gemüsesorten an, zum Teil selbst aus Samen gezogen. Dass die tägliche Einkaufs-Autofahrt des Großstädters aufs Land zum Bauern seines Vertrauens keine ­Lösung sein kann, ist auch ihm klar.

Die Macht der Konzerne brechen

Er wünscht sich, dass die Konsumenten die Macht der Konzerne brechen, ­indem sie anfangen, "jenes Bio zu unterstützen, das ihren eigenen Vorstellungen entspricht". Der Weg dorthin führt bei ihm über solidarische Landwirtschaft, dezentrale Strukturen und Lebensmittelkooperativen. Genau davon handelt sein neues Buch "Friss oder stirb", das vor Kurzem erschienen ist.

Bücher von C. Arvay: "Friss oder stirb", "Der grosse Bio-Schmäh"

    Buch:  
  Der große Bio-Schmäh
  Wien: Ueberreuter 2012

Fast drei Monate lang reiste Clemens Arvay quer durch Europa und besuchte große Indus­triebetriebe ebenso wie kleine Landwirte, die eines gemeinsam haben: Sie stellen Bio-Lebensmittel her.

So wie in seinem Buch "Der große Bio-Schmäh" geht es auch in seinem neuen Buch "Friss oder stirb" um die Bedingungen, unter denen die großen Handels­ketten ihre Bio-Ware in die Regale bringen. Und darum, mit welchen Werbebotschaften die meist triste Realität geschönt und den Konsumenten eine heile Bio-Welt vorgegaukelt wird.

Was beim "Bio-Schmäh" nur am Rande vorkommt, ­nämlich ein lösungsorentierter Ansatz, nimmt diesmal breiten Raum ein. Lesern, die sich beim ersten Buch gefragt haben, was sie ­überhaupt noch kaufen können, werden hier Alternativen aufgezeigt.

Für ein dezentrales Lebensmittelsystem

    Buch:  

  Friss oder stirb 
  Salzburg: Ecowin 2013

Arvay plädiert in "Friss oder stirb" für ein de­zentrales Lebensmittelsystem: Regionale Bio-Märkte, lokale Bio-Läden, der eigene Gemüse­garten, Selbsternte-Parzellen und Ge­mein­schaftsgärten sind für ihn ebenso ein Weg zu "Ernährungssouveränität und Lebens­mittel­demokratie" wie das Bestellen von "Bio-Kisteln".

Ein besonderes Anliegen ist ihm die sogenannte solidarische Landwirtschaft, bei der sich Konsumenten an der Lebensmittel­produktion finanziell beteiligen oder zusätzlich in den Betrieben selbst mithelfen und dafür am Ernte-Ertrag beteiligt werden. Der Schwerpunkt des Textes liegt auf Expertengesprächen. Daten und Fakten zum Thema Landwirtschaft werden verständlich aufbereitet. Die Zusammenfassung von wichtigen Infos in Kästen sorgt für einen guten Überblick.

Profit statt Nachhaltigkeit

Clemens Arvays Kritik an der Bio-Industrie ist nicht neu. Unter Experten wird seit einigen ­Jahren problematisiert, dass sich die Wirtschaftsweise und die Vermarktungsstruk­turen der Bio-Betriebe jenen der konventionellen Landwirtschaft gefährlich annähern.

Statt um Nachhaltigkeit, Kreislaufwirtschaft, Natur- und Umweltschutz geht es zunehmend um Profit­orientierung, ungezügeltes Wachstum und ­Einsatz von allem, was technisch machbar ist. Dass nun auch in einer breiteren Öffentlichkeit darüber diskutiert wird, was hinter bio im Großformat steckt, ist gut so, auch wenn es wehtut. Denn nur, wenn die Dinge auf den Tisch gelegt werden, geht auf Dauer etwas weiter!

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