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Meere mit bunten Fischen
Bild: urvana / Shutterstock.com

Unser Meer: Die umfassende Bedeutung der Ozeane

Serie „Unser Meer“, Teil 1. Ohne sie könnten wir nicht überleben. Dennoch wissen wir über keinen Lebensraum weniger als über die Ozeane. Was sie für uns leisten. Eine Annäherung.

Was ist eine Koralle? Ist es eine Meerespflanze, eine Art versteinerte Alge? Oder doch ein Tier? Braucht eine Koralle Nahrung? Wenn ja, wie ernährt sie sich? Die Sache ist, wie so vieles in der Natur, komplex. Warmwasserkorallen sind koloniebildende, festsitzende Polypentiere – als nächste Verwandte gelten Quallen. Korallen gehen ­eine Symbiose mit einer speziellen, sehr temperatursensiblen Algenart ein. Im Austausch gegen Logis versorgen die Algen die Koralle mit Zucker, Stärke und anderen organischen Produkten. Erwärmt sich das Meer allerdings zu sehr, zerbricht die Symbiose. Die Algen ziehen aus, die Korallen verlieren ihre bunte Färbung und sterben schließlich ab.

Komplexe, fragile Systeme

Warum wir Ihnen das erzählen? Dieses symbiotische System ist in gleichem Maße faszinierend wie fragil. Wie sehr vieles im großen, verborgenen Reich der Meere. Wir Österreicher schenken den Ozeanen aber eher wenig Beachtung. Viele sehen sie, wenn überhaupt, nur im Urlaub. Da liegt es nahe, dass wir über die Alpen mehr wissen als über die Meere.

Warum wir uns trotzdem mit ihnen beschäftigen sollten? Das will Ihnen dieser Artikel beantworten. Dazu stecken wir gemeinsam einen kleinen Zeh in die unentdeckten Meerestiefen unseres blauen Planeten. Denn obwohl sie drei Viertel der Erde bedecken, liegt vieles, was die Ozeane betrifft, noch im Dunkeln. Von ihren 13.700 Millionen Kubikkilometern Wasser gelten 80 Prozent als unerforscht.

Ein Tiefseetauchgang

Am wenigsten wissen wir über den größten zusammenhängenden Lebensraum unserer Erde: die Tiefsee. Da gibt es Unterwasser-­Vulkane, die Asphalt spucken, Krabben ohne Augen und Würmer, die Erdöl fressen. Die Tiefsee gibt auch Menschen Rätsel auf, die sich seit Jahrzehnten intensiv mit ihr beschäftigen. Wie Gerhard Herndl, Professor für aquatische Biologie an der Universität Wien. Er sagt: „Wir wissen weniger über die Tiefsee als über die Oberfläche des Mondes.“

Viele neue Arten entdeckt

Immerhin kennen wir bis heute 2,2 Millionen Meerestiere, der Großteil davon sind Mikroben. Bei der Erforschung und Beschreibung von maritimen Arten habe man lange auf die tiefsten Stellen vergessen, meint Herndl. Er selbst war Teil eines riesigen Projektes, des „Census of Marine Life“. 2.700 Wissenschaftler aus 81 Nationen ­arbeiteten dabei zusammen. Ihr ambitioniertes Ziel: sämtliche Lebewesen der Ozeane zu kategorisieren. „Insgesamt wurden mehr als 100.000 neue Arten beschrieben – und auch eine Vielzahl an Tiefseeorga­nismen“, fasst der Meeresforscher das Projekt, das sich über zehn Jahre erstreckte, zusammen.

Mitarbeiter seiner Arbeitsgruppe haben erst im vergangenen Sommer vor Grönland Meerespilze gefunden: „Diese Organismen hat man lange übersehen, weil man nicht damit rechnete, dass es sie geben könnte. Bei den von uns gesammelten Proben sind bestimmt auch neue Arten dabei.“ Doch nicht nur Mikroorganismen und Pilze blieben lange verborgen. Erst vor zwanzig Jahren beschrieben Forscher den Mesoplodon perrini, eine neue Art der Schnabelwale. Ihre Population ist sehr klein. Sie selbst sind es nicht. Manche Tiere werden bis zu fünf Meter lang. Selbst ganze Ökosysteme lagen lange Zeit im Dunkeln. Vor drei ­Jahren fanden Forscher ein 2,5 Kilometer langes Warmwasser-Korallenriff. Es liegt vor der apulischen Stadt Monopoli und ist das ­einzige seiner Art in Europa.

Ökosystemdienstleistungen

An einer anderen Stelle des Kontinents, in den Niederlanden, hat Gerhard Herndl ­lange gearbeitet. Die Menschen dort, so erzählt er, haben einen engen Bezug zum Meer – wollen es erforschen, schützen oder wirtschaftlich nutzen. Österreicher sitzen Stunden im Auto, bevor sie die Füße ins Salzwasser halten können. Wieso sollten sie sich für die Ozeane interessieren? Die pragmatische Antwort: Weil auch wir ohne ihre Ökosystemdienstleistungen nicht überleben würden.

Größter Wärmespeicher der Erde

Die Ozeane sind der größte Wärmespeicher der Erde. Seit 1955 haben sie 326 Zetajoule an überschüssiger Energie gespeichert – eine Zahl mit 21 Nullen. Das hat Kon­sequenzen. Laut Europäischer Energieagentur (EEA) erwärmen sich die oberen 75 Meter der Meere am stärksten. Doch auch in der Tiefsee misst man einen Anstieg, so Experte Herndl. Er fasst zusammen: „Für das Klima sind die Ozeane entscheidend. Über 95 Prozent der Wärme, die wir über den CO2-Ausstoß produzieren, nimmt das Meer auf. Hätten wir es nicht, wäre es auch in Österreich wesentlich heißer.“

Sauerstoffproduzent erster Güte

Ohne Ozeane wäre es nicht nur viel zu heiß, wir könnten auch nicht atmen. Dass wir es können, liegt an winzigen pflanzlichen Organismen. 10,8 Gigatonnen Phytoplankton, so schätzt man, treiben durch die Oze­ane. Es betreibt Photosynthese – und pro­duziert, quasi als Abfallprodukt, mindestens die Hälfte des Sauerstoffes unserer Erde. ­Zudem bildet es die Basis der maritimen ­Nahrungspyramide. Ohne Phytoplankton auch kein Fisch. Das macht die winzigen ­Organismen für die 2,9 Milliarden Menschen, die vor allem im globalen Süden damit ihren Proteinbedarf decken, doppelt überlebenswichtig. Auch auf unseren Tellern landet häufig, was zuvor im Ozean schwamm. Rund acht Kilo Fisch isst ein Österreicher im Jahr, der Großteil wird importiert.

Geniale Kreisläufe

Nicht nur für unsere Ernährung ist Phytoplankton wichtig. Auch bei der CO2-Ein­speicherung spielt der Winzling eine große Rolle. Die Masse an Plankton bindet bis zu 40 Prozent des vom Menschen emittierten Kohlendioxids – und das, nach Absinken auf den nasskalten Meeresboden, sehr lange.

Das Phytoplankton leistet Großes. Stört man sein Wachstum, hätte das dramatische negative Folgen – auch für uns Binnenlandbewohner. Natürlich speichern auch andere Organismen CO2. Ein großer Wal, so eine Studie, kann im Durchschnitt 33 Tonnen in seine Biomasse, also seinen Körper einlagern. Und das winzige Plankton und die riesigen Wale beeinflussen sich gegenseitig. Walausscheidungen enthalten eine Menge ­Eisen. Das braucht das Phytoplankton, um schneller zu wachsen. Mehr davon bedeutet auch mehr Walfutter, mehr Wale und mehr CO2-Einspeicherung. Ein genialer Kreislauf.

Kohlenstoffsenken oder -produzenten

Auch Pflanzen im und am Wasser – in Seegraswiesen, Mangroven und Salzwiesen – wird großes Potenzial als Kohlenstoff­senken zugesprochen. Zu Recht? Das weiß Jörn Kohlhus, Seegraswiesen-Experte im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer: „Das Seegras in der Nordsee wächst in der Zeit von April bis August wahnsinnig schnell hoch. Im Herbst stirbt es ab, wenn es nicht zuvor von den Gänsen abgefressen wurde.

Entscheidend ist die Frage: Wie viel organische Substanz bleibt im Watt eingelagert? Das wissen wir noch nicht. Hohe Produktivität heißt nicht, dass die organische Substanz lange gespeichert wird“, erklärt er. Schätzungen für die 285 Quadratkilometer an Seegraswiesen in der deutschen Ostsee liefert das Helmholtz-Zentrum für Meeresforschung in Kiel. Bis zu 56 Kilotonnen CO2 könnten in der Ostsee festgesetzt werden. Unter der Bezeichnung „Blue-Carbon-Methoden“ schrieb man der Aufforstung und Rekultivierung von Man­groven, Salzwiesen und Seegraswiesen ­sogar zu, das Klima retten zu können. Umso mehr erstaunte eine kürzlich veröffentlichte Studie. Tropische Seegraswiesen, so fand ein internationales Team heraus, nehmen nicht nur weniger Kohlendioxid auf als gedacht. „Im Gegenteil: An manchen Küsten geben sie sogar verstärkt CO2 ab“, so Forschungsleiter und Biochemiker Bryce Van Dam. Das dämpft die Erwartungen.

Zwei Schlussfolgerungen

Uns zeigt es zweierlei. Nicht nur die Tiefsee, sondern auch die flachen Gewässer der Ozeane halten noch viele Erkenntnisse ­bereit. Und: Am besten funktionieren Öko­systeme, die wir in Ruhe lassen. Denn auch wenn wir nicht alle Lebewesen kategorisiert, alle Abläufe im Ozean entschlüsselt haben, so wissen wir doch: Geraten sie aus dem Gleichgewicht, leiden auch wir. Und zwar egal wo wir leben.

Schützen kann man allerdings nur, was man kennt. Darum werden wir uns in den folgenden Ausgaben weiter mit den unbekannten blauen Weiten beschäftigen. Wir werden über die größten Bedrohungen – Erhitzung und Versäuerung, Überfischung und Plastikverschmutzung – berichten und darüber, wie diese sich auf unser Leben auswirken. Und wir werden darauf eingehen, wie man als Einzelner die Ozeane schonen kann. ­Tauchen Sie bald wieder mit uns ein!

Meer-Fakten

- Rund 5.000 Meter: Auch in dieser Tiefe, so fanden Forscher des „Census of Marine Life“ heraus, gibt es noch Leben zuhauf. Rund 500 neue Arten entdeckten sie in den vergangenen Jahren in der Tiefsee – unter anderem Flohkrebse.

- Mehr als 20.000: So viele Arten von Bakterien entdeckten Forscher in einer Wasserprobe. Sie entstammt einer Eruptionsspalte aus 1.500 Metern Tiefe.

- Fast 8 Millionen Tiere: So groß war ein Heringsschwarm, der vor der Küste New Jerseys schwamm.

- Über 80 Grad Celsius: Dieser Hitze ist eine Art des Röhrenwurms mit dem Namen Alvinella gewachsen. Sein Körper steckt in einer Wohnröhre an der Außenwand sogenannter hydrothermaler Schlote. Diese ­stoßen unter anderem giftige Schwermetalle aus. Wie Alvinella diese extremen Bedingungen überlebt, versuchen Forscher noch zu entschlüsseln.

- Rund 330 Meter: In dieser Tiefe haben Forscher im Golf von Mexiko 22 Vulkane entdeckt. Das Besondere an ihnen? Sie spucken Asphalt. Wie sie das machen, ist eines der bisher ungelösten Rätsel der Tiefsee.

- Bis zu einen Millimeter: So dick, nämlich hundertmal so dick wie jene von Menschen, können Nervenfasern von Kalmaren werden. Das brachte sie schon 1936 in das Blickfeld von Neurobiologen. So haben die Kalmare uns geholfen, zu verstehen, wie Nerven­impulse zum Gehirn übertragen werden.

MEHR ZUM THEMA

Im nächsten Serien­teil von „Unser Meer“ widmen wir uns der Bedrohung durch die Klimakrise:

- Was macht die Meereserwärmung mit den Ökosystemen?

- Was mit den Riffen? Was sind Kipppunkte?

- Welcher Schaden ist schon jetzt messbar?

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