Interview mit Prof. Dr. Petra Thürmann
Prof. Dr. Petra Thürmann ist
Fachärztin für klinische Pharmakologie an der Universität Witten/Herdecke. Die
Wissenschaftlerin untersucht in einem Forschungsprojekt an mehr als 6000
Patienten, wie sich Arzneien und Arzneikombinationen bei älteren Menschen
auswirken.
Wie präsentiert sich die Ausgangslage zur Medikation älterer Menschen
in Deutschland?
Thürmann: Ambulant zu Hause lebende ältere Patienten über 75 nehmen pro Tag
im Durchschnitt 5 bis 6 verschiedene vom Arzt verschriebene Medikamente ein.
Dazu kommen in der Regel noch 1 bis 2 rezeptfreie Präparate aus der Apotheke. In
Pflegeeinrichtungen addiert sich diese Zahl um mindestens eine weitere
Arznei.
Wie kommt es zur Übermedikation?
Thürmann: Betagte Menschen leiden oft unter fünf oder mehr Krankheiten
gleichzeitig. Selbst eine leitliniengerechte Behandlung wird da schnell zum Teil
des Problems, wenn etwa hoher Blutdruck, Schlaganfall, hoher Cholesterinspiegel,
Prostatabeschwerden und hoher Blutzucker zusammenkommen.
Was können die Ärzte tun, um eine Übermedikation zu verhindern, wo kann
man ansetzen?
Thürmann: Ärzte und Apotheker müssen sich fragen,
was vereinfacht werden kann, was zu viel ist. In der Regel
kann mindestens auf ein Medikament verzichtet werden, häufig am ehesten auf Schlafmittel
oder Psychopharmaka. Es gibt aber keine Leitlinie, die dem Arzt
sagt, welche Krankheiten prioritär zu behandeln sind und welche Medikamente
am ehesten weggelassen werden dürfen. Dies muss von Fall zu Fall
individuell entschieden werden.
Welche Krankheit ist in erster Linie bedrohlich, welche Krankheit verursacht
Schmerzen. Wenn etwa ein Patient mit zu hohem Cholesterinspiegel unter starken
Rückenschmerzen leidet und deshalb nicht schlafen kann, sollte vielleicht eher
auf die Einnahme eines Cholesterinsenkers verzichtet werden.
Wechselwirkungen zwischen Medikamenten sind nicht das einzige Problem,
bereits die Nebenwirkungen einzelner Präparate sind mitunter problematisch. Was
sind die Hintergründe?
Thürmann: Studien an Patienten mittleren Alters zeigen, dass Blutverdünner
Todesfälle verhindern. Wir wissen aber, dass etwa 50 Prozent aller betagten
Patienten, die mit Vorhofflimmern im Krankenhaus liegen, Blutverdünner
einnehmen. Dies zeigt eben auch: Ideale Studienbedingungen haben mit dem wahren
Leben wenig gemein.
Was kann der Arzt hier tun?
Thürmann: Man sollte auf die Wahl der Medikamente achten. Schmerzmittel mit
dem Wirkstoff Indometacin sind für ältere Menschen beispielsweise sehr
problematisch, Ibuprofen wäre eine bessere Alternative. Bei den Psychopharmaka
sind Amitriptylinpräparate gefährlich, da diese erwiesenermaßen das Risiko für
Hüftfrakturen erhöhen. Der Wirkstoff kann Herzrhythmusstörungen und
Blutdruckabfall auslösen, was wiederum zu Schwindelgefühlen führt und die
Sturzgefahr deutlich erhöht. Wesentlich besser verträglich ist in diesem Fall
etwa Citalopram.
Prinzipiell schwierig zu handhaben sind Blutverdünner, die häufig bei älteren
Menschen sehr große Nebenwirkungen haben und in Kombination mit anderen
Medikamenten schwierig einzustellen sind. Hier stellt sich die Frage, ob es
nicht sogar besser ist, auf Acetylsalicylsäure zurückzugreifen.
Welche Rolle spielt der Medikamentenmissbrauch?
Thürman: Dies ist ein Problem. Medikamentenmissbrauch lässt sich oft nicht
einfach nachvollziehen, da viele Patienten auf Privatrezepte zurückgreifen, die
keiner Kontrolle unterliegen. Wenn man selbst bezahlt ist es kein Problem, an
Psychopharmaka wie Diazepam oder sogar an Valium heranzukommen. Am ehesten weiß
natürlich der Arzt Bescheid, der das Rezept ausstellt. Doch auch Ärzte stehen
dem Missbrauch häufig hilflos gegenüber, denn ein Entzug ist nicht einfach.
Auch bei nicht vorschriftsmäßig eingehaltenen Therapien kommt es immer
wieder zu Problemen, wieso eigentlich?
Thürmann: Paradebeispiel sind blutzuckersenkende Medikamente. So werden grade
ältere Patienten oft mit schwerer Unterzuckerung in Kliniken eingeliefert, weil
sie zwar das Medikament eingenommen, aber nichts dazu gegessen haben. Oder sie
sind sich nicht sicher, ob sie die Tablette bereits geschluckt haben und nehmen
sicherheitshalber noch eine zweite ein. Manchmal kann deshalb auch ein
scheinbarer Vorteil in das Gegenteil umschlagen.
So gibt es inzwischen blutzuckersenkende Präparate, die nur einmal am Tag
eingenommen werden müssen anstatt dreimal täglich. Aber bei einer Tablette am
Tag wird dann bei Unsicherheit schneller eine zweite eingenommen und das führt
dann eben häufig zur Unterzuckerzuckerung. Bei drei Tabletten täglich denkt ein
Patient, der glaubt die Morgentablette vergessen zu haben, ach was, mittags
nehme ich sowieso die nächste ein.