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Angst vorm Zahnarzt - Ausgeliefert

Kaum jemand geht gerne hin. Es muss allerdings sein, weil Zahnschäden sich auf den ganzen Organismus auswirken können. Gefragt ist Einfühlsamkeit.

Erst in einer Woche hat Martina Weber einen Termin beim Zahnarzt. Doch schon jetzt plagt sie die Angst. Diese Bohrgeräusche, dieser eigentümliche Geruch in der Ordination – schon beim Eintreten, das weiß sie, wird sie weiche Knie bekommen. Die hat sie bisher jedes Mal bekommen. Noch ist, wohlgemerkt, gar nichts passiert. Martina Weber ahnt Schlimmes, und allein schon diese Vorahnung ruft bei ihr ein eigentümliches Gefühl der Enge hervor. Die Schultern sind verspannt, im Hals scheint ein Kloß zu stecken, der Blickwinkel ist eingeschränkt – alles typische Symptome der Angst. Sprachgeschichtlich leitet sich dieses Wort aus dem Lateinischen ab, von den Wörtern angor (Würgen, Beklemmung, Angst), angustia (Enge), angere (die Kehle zuschnüren, das Herz beklemmen).

Angst vor der Angst

Nicht nur ein Löwe kann uns Angst machen, sondern wir uns auch selbst. Wir stellen uns eine unangenehme Situation vor – eine, der wir uns nicht gewachsen fühlen – und schon empfinden wir so, als würden wir sie unmittelbar erleben. Das Herz rast, der Blutdruck steigt. Das ist der klassische Fall einer Erwartungsangst, einer Angst vor der Angst. Häufig stellt sich diese Angst vor Prüfungen ein: Was, wenn ich eine schwere Frage bekomme oder plötzlich ein Blackout habe? Wir rechnen mit dem Schlimmsten. Dass auch alles gutgehen kann, das kommt uns gar nicht in den Sinn. Genauso ist es nun bei Martina Weber. Sie hat beim Zahnarzt nur einen Kontrolltermin. Möglich, dass ihre Zähne völlig in Ordnung sind und er nicht bohren muss. Doch diese Möglichkeit zieht sie nicht einmal in Erwägung. Für sie stellt sich der Besuch einzig als ein Katastrophenszenario dar.

Wie sagte Erich Kästner, der deutsche Schriftsteller, so schön: „Wenn einer keine Angst hat, hat er keine Phantasie.“ Man sollte meinen, dass in Zeiten wie diesen, wo alle Welt sich Tattoos machen lässt, der Besuch beim Zahnarzt seinen Schrecken verloren hat. Denn sich mit einer Nadel in die Haut stechen zu lassen ist in der Regel schmerzvoller als das Bohren beim Zahnarzt, zumal der, wenn geboten oder gewünscht, eine Betäubungsspritze (samt Betäubungsspray für die Einstichstelle) geben kann. Aber nein, die Furcht vor dem Mann (und der Frau) im weißen Kittel ist ungebrochen.


Bisher erschienen:
Angst vor dem Alter - Habe ich richtig gelebt?
Panikattacken - Wenn Angst krank macht
Angststörungen: Therapiemöglichkeiten - Wege aus der Angst
Angst: Individuelle Unterschiede - Gelähmt vor Angst
Angst vor Spinnen - Häufige Phobie

Im nächsten Heft: Angst und Lust

Freiwillig oder unfreiwillig?

Ins Tattoostudio gehen die Leute gern, zum Zahnarzt nur, wenn es sein muss. Wieso dieser Unterschied? Ein wesentlicher Grund mag darin liegen, dass Schmerz nicht gleich Schmerz ist. Einen Schmerz, den wir freiwillig auf uns nehmen, empfinden wir ganz anders als einen, den wir erdulden müssen, und das gilt weitgehend unabhängig von der Intensität des Schmerzes. Wer sich ein Blumenmotiv für seinen Oberarm wünscht, nimmt dafür das Leid eher in Kauf, als wenn ein Loch in seinem Zahn repariert werden muss. Hier ein Handeln aus eigenem Antrieb, dort eines aus Not. Hier der eigene Wille, dort so etwas wie Fremdbestimmung.

Schutzlos am Zahnarztstuhl

Hinzu kommt ein weiterer Umstand, der wohl kaum jemanden gern zum Zahnarzt gehen lässt: die extrem schutzlose Position, die man im Zahnarztstuhl einnimmt – mit dem Kopf nach unten liegt man da, den Mund weit geöffnet. Verständlich machen kann man sich bloß über Gesten und Laute, sprechen geht nicht mehr. Freiwillig bringt man sich eher nicht in solch eine Position, die für den behandelnden Zahnarzt indes ideal ist. Als kleines Kind war Martina Weber an einen Zahnarzt geraten, der sich geradewegs wie ein Befehlshaber aufführte. Mund weit aufmachen! Bitte ruhig halten! Knapp waren seine Anweisungen, geradewegs wie beim Militär. Was er erwartete, war nichts anderes als blinder Gehorsam. Und Schmerz, das war für ihn etwas, das erstens unvermeidlich und zweitens tapfer zu ertragen war.

Gefühl der Ohnmacht

Es war, erinnert sich Martina Weber, eine einzige Tortur. Gar nicht mal so sehr den Schmerz, sondern mehr dieses Gefühl der Ohnmacht, des absoluten Ausgeliefertseins empfand sie als schlimm. Zu diesem Zahnarzt ist sie nie mehr gegangen. Das eine Mal genügte allerdings, dass sie ein Trauma erlitt. Seitdem bedeutet jeder Zahnarztbesuch großen Schrecken für sie.

Kein Einzelfall

Eine ganz ähnliche Kindheitserfahrung hatte Eva Lupu gemacht. Auch sie war an einen Zahnarzt mit der Sensibilität eines Eisbrockens geraten, auch sie fürchtete sich fortan vor jeder Zahnarztbehandlung. Das Besondere in ihrem Fall: Sie wurde selbst Zahnärztin. Heute hat sie eine Ordination in Wien-Neubau und ist spezialisiert auf Patienten mit Angst vor Zahnbehandlungen (andere Begriffe: Dentalangst, Zahnarztangst). Aus Erfahrung wird man klug. Dr. Lupu weiß heute, wie sich Dentalangst anfühlt. Ebenso weiß sie, wie sie sich als Zahnärztin gegenüber ihren Patienten gerade nicht verhalten sollte. Nämlich nicht herrisch, nicht von oben herab.

„Du musst tapfer sein“

Stattdessen einfühlsam, kein paternalistisches, sondern ein partnerschaftliches Verhältnis. Dafür ist in erster Linie wichtig, sich Zeit für den Patienten zu nehmen. Auslöser für die Zahnarztangst kann, wie wir erfahren haben, ein Zahnarzt sein, der es an Einfühlsamkeit vermissen lässt. „Schuld“ können aber auch die Eltern sein, so die Erfahrung von Dr. Lupu. Eltern nämlich, die ihr Kind mit ihrer eigenen Angst und Nervosität anstecken. „Du musst tapfer sein“, „nachher bekommst du auch eine Belohnung“, „du wirst es schaffen“ – mit solchen und ähnlichen „Ermunterungen“, die gewiss gut gemeint sind, erzielen sie den genau gegenteiligen Effekt; nämlich dass ihr Kind Angst empfindet.

Der Ton macht die Musik

„Oft wäre es besser, diese Eltern würden während der Behandlung ihrer Kinder im Wartezimmer sitzen bleiben“, sagt Dr. Lupu. Ganz frei von Anspannung ist wohl keiner, der zum Zahnarzt, zur Zahnärztin geht, doch bei manchen ist sie so groß, dass sie am ganzen Leib zittern. Je größer die Angst, weiß Dr. Lupu, desto wichtiger ist es, auf den Betroffenen einzugehen. Der Ton macht die Musik – das gilt auch in der Zahnarztordination. Oft hilft es schon, dem Patienten jeden einzelnen Behandlungsschritt genau zu erklären. Manche wollen zusätzlich, dass ihnen die Hand gehalten wird. Hier ist Sensibilität gefragt. Und Menschenkenntnis, denn was der eine wünscht, mag beim anderen unangebracht sein.

Kaum Thema in der Ausbildung

Während ihres Studiums, sagt Dr. Lupu, sei die Dentalphobie überhaupt kein Thema gewesen. Und sie sei es auch heute kaum bei Fortbildungsveranstaltungen. In der Ausbildung liegt der Fokus auf Krankheitsbildern und der entsprechenden Behandlung, nicht darauf, wie mit dem Patienten umzugehen ist. Für Psychologie ist kein Platz; wer sich dafür interessiert, muss selbst initiativ werden. Hypnose hilft bei Angstpatienten, auch Akupunktur. Diese beiden Verfahren wendet Dr. Lupu allerdings nicht an, weil sie sie nicht gelernt hat. Stattdessen verlässt sie sich vordringlich auf ihre Lebenserfahrung, auf den gesunden Menschenverstand.

Granzfälle im Ordinationszimmer

Einmal, so erzählt sie, war sie jedoch überfordert: Eine Patientin war einfach nicht zu beruhigen. In einem fort weinte sie, so groß war ihre Angst. Schließlich sprang die Frau auf und rannte aus der Ordination. Ein Fall für den Fachmann – einen Psychiater oder Psychotherapeuten. Bei sehr starker Angst hilft Sedierung oder eine Vollnarkose. Beides muss allerdings in Zusammenarbeit mit einem Anästhesisten gemacht werden, und dazu sei ihre Ordination zu klein, sagt Dr. Lupu. Nicht zum Zahnarzt zu gehen, ist jedenfalls keine Lösung. Zwei Mal im Jahr sollte ein Check gemacht werden. Kleinere Schäden wachsen sich nämlich mit der Zeit zu größeren aus, womit auch die Behandlung schmerzhafter wird.

Auswirkungen auf den ganzen Organismus

Nicht zu vergessen, dass Schäden im Mundraum sich auf den ganzen Organismus auswirken können.  „Eine Parodontitis, eine Zahnfleischentzündung, kann einen Herzschaden zur Folge haben. Die Bakterien wandern ja durch den ganzen Körper“, sagt Dr. Lupu. Es führt kein Weg am Zahnarzt vorbei, das weiß auch Martina Weber. Sie wird sich einen Ruck geben, vorher Baldriantropfen zur Beruhigung nehmen und beim Zahnarzt nach Möglichkeit an etwas anderes denken, an den nächsten Urlaub, an etwas Schönes, denn Ablenkung hilft. Für Dr. Lupu ist es jedes Mal ein Erfolgserlebnis, wenn sie es geschafft hat, einem Patienten seine Angst vor der Behandlung zu nehmen oder diese zumindest zu verringern. Unerlässlich dafür ist, sich Zeit für ihn zu nehmen. Zeit, die ihr von der Krankenkasse nicht vergütet wird. Die interessiert sich nicht dafür, wie mit dem Patienten umgegangen wird.

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