Kamille als Erweckungserlebnis
Der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Die Bitte war einfach: ob ich mir im Rahmen des heurigen Kamillenteetests (KONSUMENT 11/2020) die dabei vorkommenden Labels anschauen könne. Ich war sofort Feuer und Flamme. Bekam einen großen Papiersack mit verschiedenen Kamillentees auf meinen Schreibtisch gestellt. Mit jeder Packung, die ich aus dem Sackerl nahm, wurde mein Gesicht länger. Ich sah aus als hätte ich schon drei Liter Kamillentee intus – meine Stimmung lag irgendwo zwischen schalem Trübsal und schmerzendem Magengeschwür. Kein Wunder. Ich hatte gedacht: Kamille. Wächst doch bei uns, was wird es da großartig geben: bio, meinetwegen Fair Trade für ausländische Kamille. Aber da lag ich meilenweit daneben. Die Zahl der Gütesiegel hat mich derart irritiert und enerviert, dass ich zur Beruhigung tatsächlich eine Tasse Kamillentee trinken musste. Am Heißgetränk nippend dachte ich mir: Wie naiv war ich eigentlich zu übersehen, dass man mit dem Kauf von Tee die Welt retten kann? Ich stürzte mich also in die heilsame Kraft der Kamille. Und lernte, dass man mit dem Kauf von simplen Kamillentee offenbar den Regenwald schützen, die Ausbeutung von Arbeitern verhindern und ja, sogar den ganzen Planeten retten kann.
Mit freundlichen Grüßen
UTZ, kbA und FSC, Fair Trade, vegan, ojemine. Beim Runterrattern der vorkommenden Labels hatte ich das Lied „Mit freundlichen Grüßen“ der Fantastischen Vier im Ohr. Mein Kopf konnte diese auf die Kamillenteeverpackungen gedruckten, geballten Produkt- und Heilsversprechen nur verarbeiten, indem er sie in einen Rap verpackte. Ich wühlte mich also summend durch den Papiersack voll Kamillentee und schaute, welche Labels mir unter die Augen kamen:
Bio, das hatte ich erwartet und verstanden. Konventionelle Kamille wird gespritzt und gedüngt, biologisch angebaute Kamille auch - aber mit weniger und anderen, nicht so „bösen“ Mitteln, also keinen chemisch-synthetischen Düngern und Pestiziden. Bio-Kamille vermittelt, die Schmetterlinge leben und die Bienen fliegen zu lassen.
Nachdem wir unsere Äcker und Felder einerseits zur Anzucht von Hochleistungssorten benötigen, andererseits offensichtlich dazu, sie zuzubetonieren (etwa für Einkaufszentren oder Verkehrsflächen), ist für den Anbau von Kamille in diesem Land offenbar kein Platz mehr. Eine Zahl, wie viel Kamille in Österreich angebaut wird, findet sich nicht. Nur so viel: Getreide wächst hierzulande auf 777.000 Hektar, Heil-, Duft- und Gewürzpflanzen auf 1.983 Hektar (Statistik Austria).
Freuen sich zum Beispiel die Bauern in Ägypten. Dass sie Kamille für den globalen Markt anbauen dürfen. Und dank Fair Trade von Wohlstandsmenschen aus dem Globalen Norden dafür faire Preise bezahlt bekommen. Klar könnte man jetzt mit „zerstörerischer Handelspolitik“ oder „Kolonialismus“ schwere, teils aktuelle, teils historisch aufgeladene, argumentative Geschütze auffahren. Aber dafür kann Fair Trade auch nichts. Fair Trade ist sicher nicht das schlechteste Siegel in dieser besten aller Welten. Aber Hoppla, Fair Trade kam bei den getesteten Kamillentees ja gar nicht vor. Warum bloß?
Industrielabels & Labelindustrie
Stattdessen aber traten Siegel zutage, von denen ich noch nie etwas gehört habe. Was wohl nur daran liegen kann, dass die Kriterien so schwer zu erfüllen sind, dass nur eine kleine, auserwählte Produktelite sie verliehen bekommt. Die Namen dieser Labels klingen dabei so glockenhell wie das Lachen jener Kinder, die in den Werbematerialien dieser Labels durch die Bank weg freudestrahlend abgebildet sind: Fair for Life oder One Percent for the Planet. Gemeinsamer Nenner: Beitrag leisten, Welt retten. Und das nicht nur im sozialen Bereich, sondern auch im Anbau. Staatliche und unabhängig kontrollierte Gütesiegel (z.B. bio)? Nein danke, braucht es nicht: dafür aber „Gute landwirtschaftliche Praxis“, wie es so schön im Label-Jargon heißt. Das muss genügen. So ist konventionelle Landwirtschaft wenigstens in verbale Watte gepackt. Frage am Rande: wenn ein Prozent für den Planeten ist – wohin gehen dann eigentlich die anderen 99 Prozent?
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