Interview mit Anselm Fleischmann, Aktuar bei der Beltios GmbH, einem Beratungsunternehmen für die Versicherungs- und Finanzdienstleistungsbranche.
1) In der Rentenversicherung wird mit hohen bis sehr hohen Lebenserwartungen kalkuliert. Das eingesetzte (Verrentungs-)Kapital „amortisiert“ sich bei lebenslangen Renten meist erst jenseits des 90. Lebensjahres. Warum weicht die kalkulierte Lebenserwartung derart stark von der tatsächlichen statistischen Lebenserwartung ab?
Die Gründe für die Abweichung zwischen Lebenserwartung gemäß Rentenversicherung und Lebenserwartung laut veröffentlichter Sterbetafel (Statistik Austria) sind wie folgt zu erklären:
- Die Lebenserwartung laut veröffentlichter Sterbetafel berücksichtigt keinen Trend in der Entwicklung der Sterblichkeit. Es wird hingegen angenommen, dass die heute 50-Jährigen, wenn sie 80 sind, dieselbe Sterblichkeit wie die heute 80-Jährigen haben. Dies beschreibt keinen Unterschied zwischen Lebenserwartung laut Rentenversicherung gegenüber dem statistischen Mittel, sondern präzisiert, welche Statistik eine geeignete Vergleichsgröße ist.
- Wesentlich für die Kalkulation von Leistungen und Prämien eines Versicherungsunternehmens ist die Sterblichkeit der Versichertengemeinschaft, nicht jene der Gesamtbevölkerung. Das Versicherungsunternehmen muss die Sterblichkeit für jene Personengruppen heranziehen, die auch eine Rentenversicherung abschließen. Hier wirken Faktoren wie Einkommen oder Gesundheitsbewusstsein, die im Allgemeinen zu einer höheren Lebenserwartung führen.
- Drittens benötigen Versicherungsunternehmen einen Risikozuschlag, um das Risiko, das sie übernehmen, zu tragen. Würde ein Versicherungsunternehmen mit Sterblichkeiten kalkulieren, die exakt dem statistischen Mittel der Versichertengemeinschaft entsprechen, tritt der Fall, dass statistische Schwankungen zu Verlusten und in der Folge zur Zahlungsunfähigkeit führen, mit hoher Wahrscheinlichkeit ein. Um diesen Fall zu vermeiden, besteht für Versicherungsunternehmen die gesetzliche Verpflichtung, mittels Zuschlägen sicher zu kalkulieren. Der Risikozuschlag einer Rentenversicherung muss dabei dem Risiko einer höheren Lebenserwartung entgegenwirken.
Die Auswirkung der genannten Punkte auf die Differenz zwischen Lebenserwartung laut Rentenversicherung und statistischem Mittel der Wohnbevölkerung hat sich nach unserer Einschätzung während der vergangenen 10 Jahre nicht wesentlich verändert. Signifikant verändert hat sich während dieses Zeitraums vor allem das Zinsniveau. Das führt dazu, dass die genannten Effekte wie auch die Kostenbelastung von Versicherungsverträgen für Vertrieb, Verwaltung und Steuer stärker in den Fokus rücken.
2) Im Bereich Risikoversicherung (Risiko-Ableben) scheint der Trend ein wenig anders zu sein. Hier wird die Ablebenswahrscheinlichkeit zum Teil als sehr hoch eingeschätzt – das zeigt sich an den (hohen) Prämien. Wie passt das mit den Kalkulationen in der Rentenversicherung zusammen?
Hier gelten sinngemäß dieselben Punkte wie bei der Rentenversicherung. Betreffend 2) muss die Versicherung die Sterblichkeit bzw. Risikowahrscheinlichkeit der Personengruppen bestimmen, die eine Risikoversicherung (z.B. Todesfall, Berufsunfähigkeit) abschließen. In der Berufsunfähigkeitsversicherung ist es dabei üblich, nach Berufsgruppen zu differenzieren. Der Sicherheitszuschlag (Punkt 3) muss nunmehr das Risiko einer Übersterblichkeit oder erhöhten Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Berufsunfähigkeit ausgleichen. Es ergeben sich damit in Konsequenz andere Lebenserwartungen gegenüber der Rentenversicherung.
3) Sind die Puffer, Sicherheitszuschläge oder Ähnliches zu hoch, d.h. wären günstigere Prämien bzw. höhere Renten möglich?
Selbstverständlich führen geringere Risikozuschläge zu höheren Renten bzw. günstigeren Prämien. Dem steht gegenüber, dass das Gewähren von Sicherheit sowie die Übernahme einer Garantie eine Leistung ist, die zu einem fairen Preis abzugelten ist. Wie hoch ein fairer Preis für die Übernahme der dargestellten Sicherheiten ist, wird von Versicherungsunternehmen und Konsumentinnen vermutlich unterschiedlich beurteilt. Die Europäische Norm Solvency II, die im Versicherungsaufsichtsgesetz 2016 in österreichisches Recht übernommen wurde, hat dafür gesorgt, dass Versicherungsunternehmen hinsichtlich der Bemessung von Sicherheitszuschlägen mehr Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit wahren müssen. Transparenz allein bewirkt nach unserer Ansicht noch keine günstigeren Konditionen für Konsumentinnen. Ein wirksamer Konsumentenschutz wird dadurch allerdings begünstigt.