Die Brünner Straße in Wien-Floridsdorf – ein Paradebeispiel, wie planerisches Desinteresse einer modernen und sicheren Verkehrsinfrastruktur im Weg steht: Der Radweg ist noch immer lückenhaft. Wer sich etwa zwischen Shuttleworth- und Siemensstraße mit seinem Fahrrad in den Schwerverkehr der B7 wagt, begibt sich in der Sekunde in Lebensgefahr. Es ist nur ein Beispiel von vielen, die zeigen, dass die heimische Verkehrspolitik nicht unbedingt durch innovative Konzepte auffällt, gerade auch in der Bundeshauptstadt Wien.
Radeln in der Stadt: Ausgebremst
Fahrradfahren liegt im Trend – allen Widrigkeiten zum Trotz auch in urbanen Gefilden. Ein Plädoyer für eine progressivere Verkehrspolitik.
Verteilungskampf
Zwar steigt der Anteil der Radfahrenden in Österreichs Städten langsam, aber stetig an (vorneweg sind unter den Landeshauptstädten weiterhin Bregenz, Salzburg und Graz), gleichzeitig gerät aber die dafür erforderliche Radinfrastruktur immer weiter ins Hintertreffen.
„Auf vielen Straßen wird parkenden Autos mehr Platz eingeräumt als den Menschen, die mit dem Fahrrad mobil sind“, kritisiert Christian Gratzer, Sprecher des Verkehrsclubs Österreich (VCÖ). Gratzer beobachtet den „Kampf um die Verteilung des öffentlichen Raums“ zumeist aus der Lenkstangen-Perspektive. Täglich fährt er mit seinem Fahrrad aus dem Westen von Wien entlang des Wienflusses zum VCÖ-Büro in Margareten.
Immerhin sind die Dinge im Fluss: Wer etwa auf der Favoritenstraße vom Reumannplatz in Richtung Verteilerkreis radelt oder umgekehrt vom Süden in Richtung Stadt, darf sich über die beiden neuen Einrichtungsradwege freuen. Sie kommen der Mindestbreite der offiziellen Planungsrichtlinie sehr nahe. Laut Richtlinie sollte ein Einrichtungsradweg mindestens zwei Meter breit sein, ein Zweirichtungsradweg mindestens drei Meter. Diese Dimensionen machen sich gut auf dem Papier, allerdings sind sie in vielen österreichischen Städten eher die Ausnahme als die Regel.
Wehe, wer Kritik übt
Schauplatzwechsel: Mit großem PR-Getöse wurden zu Jahresbeginn die Pläne für den neuen Rad-Highway von der Donaustadt über die Wagramer Straße und die Praterstraße in die City präsentiert. Wehe, wer da Kritik übt! Faktum ist: Der Highway ist prinzipiell eine gute Sache, aber letztendlich nur Stückwerk. Es fehlt die Gesamtstrategie.
Wer in Wien viel mit dem Rad unterwegs ist, kennt die Problemzonen nicht zuletzt aus eigener leidvoller Erfahrung: Vor mehr als vierzig Jahren haben Planer der Arbeitsgemeinschaft umweltfreundlicher Stadtverkehr, kurz ARGUS, einen Masterplan mit Transversalen aus allen Himmelsrichtungen gefordert. Dessen Umsetzung ist noch immer nicht in Sicht. Viele Alltagswege mit dem Rad lassen Stückwerk in praktisch allen Bezirken erkennen.
Autos sind zu schnell unterwegs
Auch in anderen österreichischen Städten werden geschützte Rad-Fahrbahnen schmerzlich vermisst. Damit sind die urbanen Radler dem Goodwill jener, die in ihren Autos sitzen, ausgeliefert. Und die sind laut Messungen des VCÖ zu schnell unterwegs. Dazu Christian Gratzer, der auch zu Terminen mit dem Rad fährt: „Dass nach wie vor Tempo 50 die Regelgeschwindigkeit im Ortsgebiet ist, ist ein Hindernis für den Radverkehr und absolut nicht mehr zeitgemäß.“
Der Wahrheit halber sei an dieser Stelle hinzugefügt, was viele ältere Radler bestätigen werden: Wer in den 1980er-Jahren in Wien mit dem Fahrrad unterwegs war, wurde noch zynisch als „lebensmüde“ bzw. als „Freiwild im Fließverkehr“ bezeichnet. „Zwei Radfahrer an einer Kreuzung galten bereits als Fahrrad-Demonstration“, ist ein gern zitiertes Bonmot des ARGUS-Mitbegründers Hans Doppel.
Bildergalerie: Radverkehr in Wien
Nadelöhr im Zentrum
Was die gegenseitige Rücksichtnahme anlangt, hat sich einiges zum Positiven geändert, konstatiert Matthias Nagler, der ÖAMTC-Verkehrsexperte. Weil mehr Menschen, die mit dem Auto unterwegs sind, auch die Perspektive auf dem Fahrrad kennen, ist die Bereitschaft, mit dem Wagen in weiterem Bogen auszuweichen, deutlich gestiegen. Für Nagler entscheidend: „Dass sich alle an die Straßenverkehrsordnung halten.“
Genuss für alle Sinne
Vor allem in den historischen Zentren bleibt es jedoch eng. Doch auch hier bewegt sich etwas. Auch wenn einflussreiche Institutionen heftig gegen die Neugestaltung der Wiener „Mahü“ mobilisiert haben (übrigens mit den beinahe identen Argumenten wie ein halbes Jahrhundert zuvor bei der Diskussion über eine Fußgängerzone in der Kärntner Straße), gibt sie längst die Richtung vor: Es ist immer wieder ein Genuss für alle Sinne, über die alte Einkaufsstraße hinauf oder hinunter mit dem Fahrrad zu flanieren.
ÖAMTC-Mann Matthias Nagler kritisiert dessen ungeachtet die Engstellen im innerstädtischen Bereich: „Abzulehnen sind enge Radfahranlagen, die oft nachträglich ohne größere bauliche Maßnahmen errichtet worden sind und hauptsächlich Restflächen ausfüllen.“
In vielen Straßen wäre es zweckmäßig, „den gesamten Querschnitt neu zu gestalten und eine entsprechende Infrastruktur von Anfang an mitzuplanen“. Ziel müsste dabei sein, eine positive Lösung für alle Verkehrsteilnehmer zu schaffen.
Radler-Stau
In der Früh und nachmittags nach Büroschluss staut es sich längst an den Kreuzungen vieler Städte. Zig Radler teilen sich dann vor einer Ampel, die Rot zeigt, die paar Quadratmeter Radverkehrsfläche. An größeren Kreuzungen und Knotenpunkten könnten Brückenbauwerke für den Radverkehr lange Wartezeiten und Staus vermeiden, meint dazu der Verkehrsexperte des ÖAMTC. Solche Lösungen wurden in Dänemark, im deutschen Ruhrgebiet und auch in den Niederlanden geschaffen.
Booster in der Pandemie
Weiterhin gibt es im Verhältnis zu viele Parkplätze für Autos und zu wenige Radbügel für Fahrräder. Auf vielen öffentlichen Plätzen in Österreichs Städten ist dieses Missverhältnis mit freiem Auge erkennbar: egal ob bei Haltestellen des öffentlichen Verkehrs, vor Schulen oder Unternehmen, Ämtern, Einkaufszentren oder Wohnhausanlagen, überall dasselbe Bild.
Pandemie: mehr Radfahrer
Der Fahrrad-Boom der vergangenen Jahre bekam durch die Pandemie einen weiteren Booster. Er hat die Verkehrsplanung weit hinter sich gelassen. Beispiel Radweg Donaukanal in Wien: Der ist maßgeschneidert für ein Verkehrsgeschehen in grauer Vorzeit, in der einige wenige in ihrer Freizeit mit dem Fahrrad unterwegs waren. Heute ist das ganz anders: Menschen mit Hunden, Kindern, Scootern, Rennrädern und vor allem ganz unterschiedlichen Geschwindigkeiten treffen hier täglich aufeinander. Das wäre noch kein Beinbruch. Zum Problem wird dieser Radweg erst in der Rushhour, vor allem am späteren Nachmittag und frühen Abend.
Ring-Radweg
Auf dem Ring-Radweg begegnet man öfter Roland Romano, dem Sprecher der Radlobby Wien. Seine Forderung, die Ring-Nebenfahrbahnen als Radwege oder Fahrradstraßen zu öffnen, ist so alt wie der Radweg selbst, älter sogar als der Radlobbyist: Helmut Zilk war Bürgermeister und Roland Romano noch nicht geboren, als die ersten Fahrrad-Piktogramme auf die Gehsteige des Wiener Pracht-Boulevards aufgemalt wurden.
Fußgänger am Radweg
Inzwischen wirkt dieser Radweg an zahlreichen Stellen wie aus der Zeit gefallen. Achtsamkeit ist oberstes Gebot. Vor den Radlern kreuzen Fußgänger, die nur ein Auge für die Kulisse oder ihre mobilen Gerätschaften haben, Hunde mit und ohne ihre Halter und vor allem jede Menge motorisierte Fahrzeuge. „Seit Jahren liegen fertige Konzepte zur Verkehrsberuhigung im Rathaus, doch deren Umsetzung wird blockiert“, ärgert sich Roland Romano über die Wiener Radverkehrsplanung.
Geher und Rad benachteiligt
Am Ende noch einmal zurück zur Brünner Straße, Prototyp autodominierter Verkehrspolitik: Hier ist noch immer alles bis hin zu den Grünphasen der Ampelanlagen auf die Optimierung des Autoverkehrs fokussiert. Andere Mobilitätsformen wie etwa Gehen oder Radfahren haben klar Nachrang, was wiederum dazu führt, dass viele entscheiden: Hier fahre ich sicherlich nicht mit dem Rad, weil von all den Autos viel zu viel Gefahr ausgeht.
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