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Schulkind liest angestrengt in einem Buch
Je früher LRS erkannt und angegangen wird, desto besser die Erfolgsaussichten. LRS lässt sich allerdings nicht von heute auf morgen beheben. Bild: Arsenii Palivoda / Shutterstock.com

Legasthenie: Lese-Rechtschreib-Schwäche

Menschen mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche sind oft dem Gespött ausgeliefert. Die Lernhilfe zielt auf einen sicheren Umgang mit der Schriftsprache ab - und den Aufbau eines gesunden Selbstvertrauens.

Die verflixten Buchstaben

Im Laufe der Jahre hat sich Frau Maier eine Reihe von Tricks angeeignet, die ihr helfen, sich aus der Affäre zu ziehen. Soll sie etwa auf einem Amt ein For­mular ausfüllen, so ist ihr Standardsatz: „Entschuldigung, ich habe meine Lesebrille vergessen.“ So schafft sie es ­häufig, dass sie das Formular mit nach Hause nehmen kann, wo sie alle Zeit hat, es in Ruhe auszufüllen. Zeit, die sie dringend benötigt, denn Frau Maier leidet unter einer Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS), auch Legasthenie oder Dys­lexie genannt. Ihre Schwäche einzugestehen und um Hilfe zu bitten, kommt für sie nicht infrage. Zu peinlich. Dass man des Lesens und Schreibens nicht kundig ist oder sich damit zumindest verdammt schwertut, denkt Frau Maier, billigt man einem kleinen Kind zu, aber doch nicht einer 50-Jährigen.

10 Prozent der Bevölkerung

Das Schicksal von Frau Maier teilen etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Nicht verwechselt werden darf LRS mit der immer mehr um sich greifenden Un­fähig­keit der Menschen, einen einfachen Satz fehlerfrei zu Papier zu bringen. Hier geht es um eine spezifische Schwierigkeit, die von der Weltgesundheitsorganisation WHO in ihrem Diagnosekatalog ICD-10 gar als Krankheit angeführt wird.

Mediziner:innen sprechen im Zusammenhang mit LRS lieber von „Störung“ als von „Schwäche“, für die sie in erster Linie genetische Faktoren und bestimmte neurophysiologische Ausfälle in der auditiven und visuellen Verarbeitung verantwortlich machen.

Normale Intelligenzleistung

Inwieweit LRS vererbt wird und wie sehr soziale und psychologische Ur­sachen mit hineinspielen, wird in der Forschung heiß diskutiert, insbeson­dere zwischen Medizin und Pädagogik. Für die klinische Diagnose einer LRS ist entscheidend, dass sich bei der Person eine deutliche Diskrepanz zwischen ihren Lese- und Schreibproblemen auf der einen und ihrer normalen Intelligenzleistung auf der anderen Seite zeigt. Ist auch ihre Intelligenzleistung unterdurchschnittlich, so liegt wahrscheinlich ein allgemeiner Entwicklungsrückstand vor und keine Teilleistungsstörung.

Problemerkennung

Das Duden Institut für Lerntherapie in Wien liegt gegenüber der Stadthalle. Wer hierher kommt, sucht Hilfe für seine Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Und diese Hilfe suchen vor allem Kinder im Volksschulalter. Genauer ­gesagt kommen ihre Eltern mit ihnen. Für Institutsleiter Philip Simson ein ­erster wichtiger Schritt: die Problem­erkennung.

Dass sich neu eingeschulte Kinder damit schwertun, Buchstaben und deren Laute zu erlernen, ist völlig normal. Leicht verwechseln sie „l“ mit „i“, die beiden Zeichen sind einander ja auch sehr ähnlich. Und oft klappt es mit der Lautverschmelzung nicht auf Anhieb.

Teilleistungsstörung

Wollen sich bei ihrem Kind aber überhaupt keine Fortschritte einstellen, so glauben viele Eltern zu wissen, woran das liegt: Es lernt zu wenig, muss sich mehr anstrengen! Wenn es trotzdem weiterhin Buchstaben vertauscht, Laute nicht ordentlich zusammenzieht und beim Lesen zwischen den Zeilen springt, mag den Eltern dämmern, dass ein grundlegendes Problem vorliegt.

Man liest und hört ja auch immer wieder von LRS oder Legasthenie. Vielleicht nicht so oft wie von ADHS – eine Zeit lang war davon in den Medien ständig die Rede, sodass man meinen konnte, diese Art der Konzentrationsstörung sei das Grundübel der heutigen Schülergeneration. Aber immerhin wurde LRS bereits Ende des 19. Jahrhunderts als Teilleistungsstörung erkannt, seinerzeit noch unter dem Begriff „Wortblindheit“.

Mädchen hält sich die Hände vors Gesicht Schultafel Kreidebuchstaben
Bild: Billion Photos / Shutterstock.com

Förderung statt Sonderschule

Bis in die 1970er-Jahre war es üblich, Schüler:innen mit LRS in die Sonderschule zu schicken. Heute weiß man, dass LRS nichts mit Minderbegabung zu tun hat, und die Betroffenen erhalten schon in der Volksschule Förde­r­unterricht – wenn sie Glück haben. Das heißt, sofern es an ihrer Schule entsprechend engagierte Lehrer:innen gibt. Ein (einklagbares) Recht darauf haben sie nicht.

Wer nicht auf diese Unterstützung bauen kann, ist auf außerschulische Hilfe angewiesen. Womit wir zurück wären beim Duden Institut für Lerntherapie. Bei einem Neuzugang wird als Erstes eine Förderdiagnose gestellt, um zu sehen, wo die spezifischen Probleme liegen. Denn LRS ist nicht gleich LRS. Sie kann stark oder schwach ausgebildet sein, mitunter präsentiert sie sich auch als isoliertes Phänomen. Die eine Schülerin kann flüssig lesen, aber nicht schreiben. Und beim nächsten Schüler kann es genau umgekehrt sein. Auf Grundlage der Diagnose wird ein individueller Trainingsplan erstellt, der Maßnahmen aus unterschiedlichen ­Bereichen wie Fachdidaktik und Ergotherapie miteinschließt.

Peinliche Situationen

Je früher LRS erkannt und angegangen wird, desto besser die Erfolgsaussichten. Dabei geht es nicht nur darum, dass ­Betroffene Sicherheit im Fach Deutsch erlangen; auch fast alle anderen Fächer fußen auf der Schriftsprache. Und mehr noch. Versetzen wir uns kurz in die Situation eines Schülers: Vor der Klasse soll er laut einen Text vorlesen. Nur ­stockend gelingt ihm das. Die ersten Mitschüler:innen fangen an zu lachen, noch verhalten, schließlich prusten alle los. Unser Schüler möchte vor Scham im Erdboden verschwinden. Kein Wunder, dass LRS oft mit psychosomatischen Beschwerden einhergeht, mit Ver­sagens­angst und Schulvermeidung.

Wir fragen bei Reinhard Karge nach, der seit mehr als 20 Jahren das Lese-Rechtschreib-Institut mit Hauptsitz in Graz leitet: Wie lassen sich peinliche Situationen vermeiden? Wie sollen Lehrpersonen mit den ein, zwei unter LRS leidenden Schüler:innen umgehen, die es gewöhnlich in einer Klasse gibt? Der Experte rät davon ab, ihnen eine Sonderrolle zukommen zu lassen. Das würde sie nur noch mehr isolieren. Stattdessen sollten sie in alle Übungen eingebunden werden. Auch beim Vorlesen. Empfehlenswert wäre es in ­diesem Fall allerdings, ihnen den Text vorab auszuhändigen, damit sie sich vorbereiten können.

Auch bei Arbeitsaufträgen in der Klasse plädiert der Experte für gleiche Auf­gaben für alle, nur sollte Schüler:innen mit LRS mehr Zeit eingeräumt werden. Manchmal wären auch schon kleine Änderungen große Hilfen, beispielsweise wenn Texte in einer größeren Schrift ausgedruckt würden.

Interesse wecken

Reinhard Karge hat Germanistik und Psychologie studiert. Zwei Disziplinen, die ihm in seiner täglichen Arbeit zugutekommen. Mit feinem Gespür versucht er bei seinen Klient:innen Interesse für das zu wecken, was ihnen bisher eher ein Gräuel war: die deutsche Sprache.

Viele Wörter im Deutschen sind Zusammenfügungen, wahre Buchstaben­kolonnen wie beispielsweise „Fußballländerspiel“. Diese lassen sich in klei­nere Einheiten zerlegen, in Silben. All das gilt es den Betroffenen zu vermitteln, auf möglichst spielerische Weise. Das Lernen soll schließlich Spaß machen.

Bekannte Beispiele

Eine LRS lässt sich nicht von heute auf morgen beheben. Im Schnitt dauert das Training eineinhalb Jahre, abhängig davon, welches Ziel man sich setzt. Legasthenie hindert einen nicht daran, als Schriftsteller:in Erfolge zu feiern. John Irving ist dafür ein Beispiel, oder auch John Ford, der anlässlich des Erscheinens seines Romans „Valentinstag“ im Interview mit dem Magazin der Süddeutschen Zeitung sagte: „Für mich bedeutet die Leseschwäche auch einen Vorteil. Wenn man langsam liest, wird man sich der Qualitäten der Sprache bewusst, wird sensibel für Qualitäten, die nicht nur informationstragend sind, hört, wie die Wörter klingen, wie sie aussehen, wie viele Silben sie haben, wie die Rhythmen, die Buchstaben klingen.“

Auf LRS spezialisierte Institute gibt es in Österreich nur wenige, dafür umso mehr selbstständige Trainer:innen. Bezah­len muss man sie aus eigener Tasche. Üblich ist eine einstündige Einheit pro Woche. Die monatlichen Kosten variieren nach unseren Erhebungen stark – von 50 bis 250 Euro.

Was Hänschen nicht gelernt hat, kann Hans durchaus noch lernen. Frau Maier hat genug vom Versteckspiel. Sie hat sich für einen Kurs gegen ihre Lese-Rechtschreib-Schwäche angemeldet.

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