„Zahnärzte sind große Individualisten“
Interview mit Prof. Dr. med. dent. Jean-François Roulet
Prof. Roulet war langjähriger ärztlicher Leiter des
Zentrums für Zahnmedizin, Abteilung für Zahnerhaltung und Präventivzahnmedizin
an der Humboldt-Universität Berlin; er ist Autor der Tabelle
„Füllungsmaterialien im Vergleich“ des Ratgebers "Zähne" (hrg. von Verein für
Konsumenteninformation und Stiftung Warentest); seit Herbst 2003 Bereichsleiter
Forschung & Entwicklung/clinical bei Ivoclar Vivadent (ein internationales
Unternehmen zur Herstellung zahnärztlicher Materialien).
Welche Moden, welche Trends?
Konsument: Vor 5 bis 10 Jahren war Laser ein heißes Thema in der Zahnmedizin
- und in den Medien, vor drei, vier Jahren das Anti-Karies-Gel Carisolv ... Auch
in der Zahnmedizin gibt es Moden. Welche Trends bei Füllungsmaterialien sind in
den USA und Deutschland derzeit aktuell?
Roulet:
Ich halte nichts von Moden in einem wissenschaftlich basierten
Fach. Trends ergeben sich aus dem Wissenszuwachs, der sich in der Zahnmedizin,
wie auch in der Medizin in veränderter Betrachtungsweise und in verbesserten
Therapieverfahren niederschlägt. Der grösste Wandel in der Zahnmedizin ist durch
die Einsicht geprägt, dass es die Natur immer noch am besten macht. Dank der
Möglichkeiten der Adhäsivtechnik (Anmerkung der Red.: Zahnarzt raut die
Oberfläche der gebohrten Höhlung auf und verankert die eigentliche Füllung
mittels Spezialkleber fest im Zahn – das ist eine zuverlässige Verbindung
zwischen Zahnhartsubstanz und Füllung) hat sich die minimal invasive Zahnmedizin
etabliert (Anmerkung der Red.: maximaler Zahnerhalt durch verstärkte Vorsorge
und möglichst kleine Reparaturen).
Maximaler Zahnerhalt
Früher orientierte sich das Anfertigen einer Füllung vor allem an den
Eigenschaften des Materials – wichtig waren da Schichtdicke, Kantenfestigkeit,
mechanische Daten usw. Da musste man beim Legen von Füllungen relativ viel
gesunde Zahnhartsubstanz entfernen. Mein Kollege Prof. Vitus Stachniss von der
Abteilung für Zahnerhaltung an der Universität Marburg meinte einmal: „Der
Zahnarzt zerstört mit der Turbine in Sekunden mehr gesunde Zahnhartsubstanz als
die Karies in Monaten oder gar Jahren schafft“.
Defekt steht im Mittelpunkt
Heute orientiert sich das Vorgehen am Defekt. Es wird gerade soviel
Zahnhartsubstanz entfernt, dass der Defekt zugänglich wird. Nach Entfernung des
kariösen Gewebes versorgt der Zahnarzt den Defekt mit Komposit und
Adhäsivtechnik.
Eine weitere Verbesserung der letzten Jahre ist die Möglichkeit wirklich
zahnfarben und zahnähnlich zu versorgen. Die neuen Kompositmaterialien
entsprechen in der Lichtdurchlässigkeit jener der Zahnhartgewebe, außen der
Schmelz und innen das Dentin. Mit der richtigen Technik, also Schicht um
Schicht, kann man „unsichtbare“, d.h. nicht als solche erkennbare Füllungen
herstellen. Allerdings erfordert das entsprechendes Können des Zahnarztes und
genügend Zeit. Dass das auch nur mit einer perfekten Adhäsivtechnik
funktioniert, ist selbstverständlich.
Was sind die typischen Fehler?
Konsument: Gibt es bei beim Legen von Füllungen typische Fehler, die
Zahnärzte immer wieder begehen?
Roulet: Das Nichtbefolgen der Gebrauchsanweisung. Zahnärzte sind grosse
Individualisten, die gerne „eigene“ Verfahren entwickeln. Dabei ist aber nicht
gesichert, dass das Resultat das vom Material her Bestmögliche ist. Leider ist
es so, dass der von den Kostenträgern (Anmerkung der Red.: Krankenkassen)
auferlegte Druck die Kollegen zu „Abkürzungen“ zwingt, wenn sie nicht rote
Zahlen schreiben wollen.
Beschädigt das Bleichen die Füllungen?
Konsument: Können die Mittel, die zum Bleichen von Zähnen eingesetzt werden
auch intakte Füllungen beschädigen oder den Randspalt zwischen Füllung und Zahn
vergrößern?
Roulet: Grundsätzlich sollte das Bleichen von Zähnen nur unter Kontrolle des
Zahnarztes erfolgen. Dann ist gewährleistet, dass sie nicht überbleicht werden –
das hätte entsprechende ästhetische Einbussen zur Folge. So nähme etwa die
Transparenz des Zahnschmelzes ab. Die gängigen Füllungsmaterialien lassen sich
nicht bleichen. Sie werden auch nicht durch die Bleichmittel beschädigt.
Bleichmittel können hingegen Zemente angreifen (Anmerkung der Red.: als
Befestigung für Kronen). Daher ist bei überkronten Nachbarzähnen Vorsicht
geboten.
Galvanisches Element – Strom im Mund
Konsument: Manche Patienten tragen gleichzeitig Goldinlays und
Amalgamfüllungen im Mund. Ist das für die Mehrheit der Patienten tatsächlich
eine Gesundheitsbelastung wie manche Zahnärzte immer wieder behaupten („da gibt
es ein edles und ein unedles Metall, zwischen denen fließt Strom und der löst
das unedlere Material aus der Füllung und das ist nicht so günstig“). Oder ist
der Hinweis auf dieses sogenannte galvanische Element zwar sachlich richtig aber
für die überwiegende Mehrheit der Patienten ohne gesundheitliche Bedeutung?
Roulet: Eine uralte Fragestellung. Der Hinweis ist in der Theorie richtig, in
der Praxis ist die Sache unbedeutend, da nur bei grossen Unterschieden relevante
Ströme fliessen könnten. Beim Amalgam passiviert die Oberfläche aber sehr
schnell, d.h. es bildet sich eine Oxydschicht und die wirkt wie ein Isolator.
Die Schicht kann allerdings auch weggescheuert werden, z.B. wenn sich die Zähne
bewegen. Das hätte zur Folge, dass auf Grund der Potentialdifferenz dann doch
Strom fliesst. Das geschieht bei allen nicht edlen Legierungen in „Kontakt“ zu
Goldlegierungen.
Außerdem: Es gibt recht grosse individuelle Unterschiede in der
Empfindlichkeit. Was einen Patienten nicht stört, kann beim anderen durchaus
Beschwerden verursachen.
Nur eine einzige Legierung?
Konsument: Manche Zahnärzte empfehlen – Stichwort „Strom im Mund“ - eine
einzige Legierung im Mund zu verwenden. Ist das für den Patienten sinnvoll und
empfehlenswert?
Roulet: Bei mehreren verschiedenen Goldlegierungen in einem Mund sind die
Unterschiede so gering, dass das Phänomen vernachlässigbar ist.
Wie werden neue Materialien vor dem Verkauf getestet?
Konsument: Werden neue Füllungsmaterialien (bzw. neue Varianten bekannter)
vor dem Einsatz am Patienten ausreichend getestet? An wie vielen Patienten - 10,
50, 500, über welche Zeiträume und zu welchen Konditionen? Was ist hier üblich?
Roulet
:
In der EU gelten Füllungsmaterialien als
Medizinprodukte. Somit wird deren Anwendung und Zulassung durch das
Medizinproduktegesetz geregelt. Für Füllungsmaterialien muss das CE Zertifikat
erteilt werden, was der Hersteller selber tun darf, sofern er von einer befugten
Institution (z.B. TÜV) zertifiziert wurde. Diese Fähigkeit wird mit sogenannten
Audits periodisch überprüft. Klinische Studien sind nicht zwingend
vorgeschrieben, sondern der Hersteller muss eine klinische Bewertung vornehmen,
d.h. er muss nachweisen, dass das Produkt seinen Zweck erfüllt, ohne zu schaden.
Klinische Studien nicht zwingend vorgeschrieben
Obwohl das klinische Verhalten (Anmerkung der Red: im Mund des Patienten) von
Füllungsmaterialien sehr stark von der Art und Weise der Verarbeitung durch den
Zahnarzt abhängt, lassen seriöse Hersteller vor der Verkaufsfreigabe klinische
Studien durchführen. Die Anzahl zu beurteilender Restaurationen hängt sehr von
der Grösse der Unterschiede zur Kontrollgruppe, die man nachweisen will, ab. Je
weniger sich das neue Material von einem Standardmaterial unterscheidet, desto
mehr Restaurationen (Anmerkung der Red.: Füllungen) muss man in der Untersuchung
prüfen. Üblicherweise werden mit neuen Materialien 2 bis 4 klinische Studien
durchgeführt. Die sind so angelegt, dass nach 3 Jahren je Studie noch mindestens
30 Restaurationen (Anmerkung der Red.: Füllungen) zur Beurteilung vorhanden
sind. Solche Studien werden meist auf mehrere Jahre angelegt In der Regel wird
aber nach einem Jahr Liegedauer über die Verkaufsfreigabe entschieden.
Je neuer, desto gründlicher
Diese Entscheidung erfolgt im Kontext des gesamten Wissens über das Material
und seine Eigenschaften. Je deutlicher sich ein „neues“ Material von
herkömmlichen Materialien unterscheidet, umso ausführlicher und gründlicher
erfolgen die wissenschaftlichen Abklärungen und somit auch die klinischen
Studien. Auf Grund der Produkthaftung haben alle Hersteller grosses Interesse
nur sichere Materialien auf den Markt zu bringen.
Gold- und Keramikinlays für Kinder?
Konsument: Gibt es bestimmte Füllungsmaterialien, die besonders für
Milchzähne und frühe bleibende Zähne geeignet sind? Sind Goldfüllungen/-inlays
bzw. Keramik bei Kindern (8 - 14 Jahre) sinnvoll?
Roulet
:
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Das Wesentliche in der
Behandlung ist deren Kooperationsbereitschaft und Ausdauer, die sicherlich sehr
altersabhängig ist. Je jünger das Kind, umso schwieriger ist es komplizierte
Verfahren anzuwenden. Deshalb haben sich hier schnelle und einfache Techniken
durchgesetzt. So sind z.B. Kompomere bei Milchzahnfüllungen sehr erfolgreich.
Beim Kind auf Vorsorge setzen
Auch hier gilt: Der Zahnarzt hat den grössten Einfluss. Nebenbei bemerkt:
Gerade beim Kind hat man noch alles in der Hand, Karies zu verhindern. In der
Regel brechen Zähne gesund in die Mundhöhle durch (mit Ausnahme von angeborenen
Defekten). Wir haben das Wissen, wie wir Zähne mit richtigem Verhalten, also mit
Prophylaxe gesund erhalten können. Goldfüllungen bzw. Keramikinlays an
Milchzähnen halte ich für eine Übertherapie.