Viktoria Kindermann ist Leiterin der Trageschule Wien.
KONSUMENT: Wo liegen die Unterschiede zwischen Babytragen und klassischen Tragetüchern?
KINDERMANN: Die Systeme unterscheiden sich in Handhabung und Tragegefühl. Bei jedem System gibt es unterschiedliche Hersteller, die sich in Schnitt und Details unterscheiden. Prinzipiell ist kein System besser oder schlechter. Welches bevorzugt wird, ist primär Geschmacksache.
Was sind die Vor- und Nachteile?
Tücher haben den Vorteil, dass sie sich wie ein maßgeschneiderter Anzug individuell anpassen lassen und von Geburt an bis zum Ende der Tragezeit passen. Lediglich die Bindeweise wird sich ändern. Und sie sind sehr pflegeleicht. Nachteil ist, dass zumindest zu Beginn für Ungeübte das Anlegen etwas aufwendiger erscheint. Das relativiert sich aber schnell.
Und bei Babytragen?
Tragehilfen sind zu Beginn etwas schneller anzulegen als Tücher, sie passen in der Regel aber nur über einen begrenzten Zeitraum. Ähnlich wie bei Babyautoschalen ist es wichtig, die passende Größe für sein Baby zu wählen. Wählt man eine zu große Größe – etwa, damit die Tragehilfe möglichst lange genutzt werden kann –, so geht das meist zulasten der Stützung eines kleinen Babys. Die meisten für Neugeborene tauglichen Tragehilfen passen bis etwa Größe 80/86. Hinsichtlich der Pflege sind sie zwar waschbar, aber zumeist nicht ganz so pflegeleicht wie Tücher.
Was, wenn beide Eltern die Trage verwenden wollen?
Der Schnitt der Tragehilfe entscheidet über den Tragekomfort, und das ist höchst individuell. Es gibt Modelle, die tendenziell mehr Gewicht auf die Hüfte ableiten. Bei anderen trägt man mehr Gewicht auf den Schultern. Wobei die Grenzen fließend sind. Wenn zwischen verschiedenen Personen gewechselt werden soll, gibt es Modelle, bei denen die Anpassung an den Tragenden automatisch mit dem Anlegen passiert. Das kann komfortabler sein als wenn die Schnallen, ähnlich wie die Spiegel beim Autofahren, bei jedem Wechsel neu eingestellt werden müssen.
Woran erkennt man das richtige Produkt?
Eine Tragehilfe muss wie gesagt möglichst gut an Kind und Träger anpassbar sein. Und es gibt vier Punkte sicheren Tragens:
1. Freie Luftzufuhr und freier Abtransport ausgeatmeter Luft.
2. Optimale Stützung vom Kopf weg bis zu den Kniekehlen.
3. Rundung des Babyrückens ist möglich: Die optimale Stützung darf nicht zulasten der physiologischen Rundung des Babyrückens gehen, vor allem bei ganz jungen bzw. schlafenden Babys. Der Rücken muss sich, dem jeweiligen Entwicklungsstand der Wirbelsäule entsprechend, einrunden können. Je kleiner das Baby, desto stärker die Krümmung.
4. Der Steg der Tragehilfe reicht von Kniekehle zu Kniekehle: So kann sich das Kind in der sogenannten Anhock-Spreiz-Haltung positionieren, was die Nachreifung der Hüfte begünstigt.
Das sind zusammengefasst sehr, sehr viele Parameter, auf die Eltern achten müssen …
Tragehilfen kaufen ist wie Jeans kaufen – auf die Passform kommt es an. Nur weil meine Freundin mit Tragehilfe XY gut zurechtkommt, muss die noch lange nicht auch für mich selbst passen. Es sind die kleinen Einstellungen und Feinheiten, Tricks und Kniffe, die den Unterschied ausmachen – und die lernt man nicht aus YouTube-Videos. Prinzipiell empfehle ich ganz klar eine Trageberatung bei einer bzw. bei einem ausgebildeten Berater. Die haben den Überblick über die aktuellen Angebote am Markt, unterschiedliche Tragehilfen zum Testen und natürlich auch einige Bindevarianten und Tipps und Tricks in petto. Ausgebildete Trageberater findet man auf den Listen der Trageschulen, z.B. unter www.trageschule-wien.at. Diese müssen sich regelmäßig fortbilden und sind damit up to date.
Was hat sich in den vergangenen Jahren an Produktinnovationen ergeben?
Im Wesentlichen wird das Rad nicht neu erfunden, sondern verfeinert. Neuerungen unterscheiden sich vor allem in Schnitt und Details. Zum Beispiel: Wie wird die Kopfstütze befestigt, wie wird der Steg verkleinert usw. In den letzten Jahren gab es fallweise Neuerscheinungen, die sich nicht eindeutig in eine der klassischen Kategorien einordnen lassen: Sogenannte Hybridtragehilfen können von einem System in ein anderes umgebaut werden. Eine Innovation sind auch die Modultragehilfen, bei denen die Tragehilfe im Baukastensystem zusammengestellt werden kann.
Babytragen und -tücher liegen im Trend. Warum?
Es ist unheimlich praktisch! Enge Gänge im Supermarkt, öffentliche Verkehrsmittel, Rolltreppen usw. – mit Tragehilfe kein Problem. Beim Tragen gilt: Kind dabei – Hände frei. Und nicht zuletzt: Mit dem Kind so engen Kontakt zu haben, ist einfach schön. Das stärkt die Eltern-Kind-Bindung ganz fundamental. Darüber hinaus gibt es noch andere Aspekte, wo das Tragen präventiv wirken kann. Bei Kindern z.B. unterstützt das Tragen die Hüftreifung und reduziert das Risiko für Hüftdysplasie. Das Getragen-Werden ist auch keine nur passive Erfahrung fürs Baby. Schon der Säugling sucht sich seine bevorzugte Position durch Ausgleichsbewegungen. Das regt seine motorische Entwicklung an. Insgesamt reden Ärzte von einer multisensorischen Stimulation für das Kind durch das Tragen. Getragene Kinder weinen zudem nachweislich weniger als Babys, die nicht getragen werden.
Weitere Vorteile für die Eltern?
Neben den bereits genannten: Sie haben damit auch ein sehr effektives „Beruhigungs-Werkzeug“ an der Hand. Das ergonomische Tragen nahe am Körper und damit mit idealem Schwerpunkt erfordert zudem keine ungesunde Ausgleichshaltung und ist somit für den elterlichen Rücken ergonomischer als das Tragen auf dem Arm.
Ist das Tragen der Kleinen in Blickrichtung nach vorn zu empfehlen?
Das ist aus mehreren Gründen nicht empfehlenswert. Eine physiologisch korrekte Haltung während des Tragens kann kaum eingenommen werden. zusätzlich lastet das gesamte Gewicht des Babys auf seinen Genitalien. Vor allem spricht auch die Reizüberflutung dagegen. In Face-Forward-Position prasseln unzählige Reize auf das Baby ein, ein Abwenden davon ist aber nicht möglich. Viele Kinder beginnen etwa mit 3 bis 4 Monaten, sich vom Tragenden wegzustemmen, wenn sie mit dem Gesicht nach innen getragen werden, da sie mehr sehen möchten. Das ist ganz normal. Die bessere Alternative zum Face Forward wäre eine Trageweise auf der Hüfte oder auf dem Rücken. Hier sieht das Baby mehr, kann sich aber abwenden, wenn die Reize zu viel werden.
Wie lange lassen sich Kinder im Durchschnitt tragen?
Haupttragezeit ist natürlich etwa das erste Lebenshalbjahr bis -jahr. Sobald die Kinder mobil werden, reduziert sich meist automatisch die Tragezeit. Bis die Kinder aber nicht mehr auf ein „Transportmittel“ angewiesen sind und neben uns herlaufen können, vergeht noch deutlich mehr Zeit. Eine Tragehilfe dabeizuhaben, wenn die Kinderfüße müde werden, ist praktisch und platzsparend. Und selbstverständlich genießt auch ein Kleinkind die Nähe noch gerne bzw. ist es eine Entlastung für müde Eltern-Arme, wenn das Kind zahnt, krank ist etc. Voraussetzung ist natürlich: Das Kind muss es wollen. Das steigende Gewicht stellt mit der passenden Trageweise in der Regel kein Problem dar, da sich die Eltern ja von einem niedrigeren Ausgangsgewicht stetig an das steigende Gewicht gewöhnen konnten. Wenn man tragen möchte, so ist das bis ca. 2 bis 3 Jahre realistisch. Ab 3 bis 4 Jahren sind es dann meist wirklich eher seltene Momente. Aber in Ausnahmesituationen habe ich auch mein 5-jähriges Kind noch getragen.