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ASMR: Frau tippt mit Fingernägel auf Mikrofon, daneben liegen Utensilien wie Schminkpinsel, Papier und Folie
Bild: Shutterstock/YuliaLisitsa

ASMR: Das große Kribbeln im Kopf

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Wenn angenehme Bilder oder wohltuende Klänge eine Reaktion im Körper auslösen, könnte das an dem Phänomen ASMR liegen. Was es damit auf sich hat und wie wir es im Alltag einsetzen können.

Schaben, knistern, trommeln, flüstern. In Millionen Videos auf Plattformen wie YouTube streichen Menschen mit ihren Fingern über Bürsten, tippen mit Fingernägeln auf Cremedosen und begleiten den Vorgang mit leiser, sanfter Stimme. Warum sie das machen? Weil ASMR ein Trend geworden ist. In den vergangenen zwölf Monaten suchten in Österreich mehr Leute auf Google nach „ASMR“ als nach Begriffen wie „Müsliriegel“ oder „Jause“. 

Die Abkürzung bedeutet auf Deutsch so viel wie „unabhängige sensorische Meridianreaktion“. Die visuellen, akustischen und taktilen Reize rufen bei manchen Menschen entspannende, beruhigende Gefühle hervor, die von der Kopfhaut aus über die Wirbelsäule wandern und sich bei zunehmender Intensität auf Rücken, Arme und Beine ausbreiten können. „Es gibt so ein Kopfmassagegerät, das aussieht wie ein Schneebesen – ASMR fühlt sich ganz genau so an, wie wenn dir jemand mit dem Gerät den Kopf massiert“, schreibt eine Userin unter ein Video.

Seltsames Gefühl

Wer hat ASMR erfunden?

Bekannt unter der Abkürzung ASMR ist das Phänomen seit 2010. Die US-Amerikanerin Jennifer Allen suchte im Internet nach Erklärungen für das in ihr bei gewissen Geräuschen aufkommende Gefühl und stieß in Foren auf andere Menschen, die davon berichteten, dass sich ein „seltsames Gefühl gut anfühle“. Sie schuf den Begriff ASMR, gründete eine Facebook-Gruppe als Anlaufstelle für Betroffene und eine Forschungswebsite zur Sammlung von Daten. Seitdem erregt ASMR von Jahr zu Jahr mehr Aufmerksamkeit – Videos mit den geräuschvollen Inhalten erhalten Millionen Klicks, sogar die Werbebranche setzt darauf, wie Werbespots von Unternehmen wie Ikea und Pepsi zeigen. 

Warum ist ASMR so entspannend?

Und auch Wissenschafter:innen beschäftigen sich mit dem komplexen Thema. Einer davon ist Claus-Christian Carbon, der an der Universität Bamberg auf dem Gebiet der Wahrnehmungspsychologie forscht. Er betont, dass nicht alle Menschen gleich auf die Stimuli reagieren, manche würden sich ekeln und die Geräusche ablehnen. Diejenigen, die bewusst ASMR-Videos aufrufen, fänden jedoch tatsächlich Beruhigung darin und können dadurch besser herunterkommen oder einschlafen. 

Carbon geht davon aus, dass die Videos ein Gefühl von menschlicher Nähe und Zuneigung transportieren und dies ein Wohlgefühl auslöse. Laut seiner Forschungsarbeit müssen die Clips beruhigend, eher repetitiv und potenziell langweilig sein, um gut zu funktionieren.

ASMR gegen Angst

Britische Forscher:innen haben 2015 herausgefunden, dass Menschen ASMR-Videos nicht zum Amüsement konsumieren: 98 Prozent der knapp 500 Befragten stimmten zu, diese zur Entspannung zu nutzen, für 82 Prozent seien sie eine Einschlafhilfe und für 70 Prozent eine Stressbewältigungsstrategie. Als häufigste Auslöser für das Kribbeln wurden etwa Flüstern, klare Geräusche wie das Klopfen mit Fingernägeln und langsame, sich wiederholende Bewegungen genannt. 

Eine aktuellere Studie aus 2022 hat sich die Auswirkungen von ASMR auf Stimmung, Aufmerksamkeit, Herzfrequenz, Hautleitfähigkeit und EEG bei jungen Erwachsenen angesehen. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass ASMR das Depressionsgefühl bei Personen, die empfindlich auf ASMR reagieren, verringert. Das Experiment zeigt, dass ASMR die Herzfrequenz reduziert – egal, ob die Person auf ASMR empfindlich ist oder nicht.

ASMR – wie geht das? 

Die britische Psychologin Giulia Poerio, die das Phänomen an der Universität Sussex erforscht, spricht davon, dass ASMR-Videos es schaffen, ein ähnliches Empfinden auszulösen wie tatsächliche körperliche Berührungen. Laut ihr sind es besonders sensible Menschen, die auf akustische oder visuelle Reize reagieren – und die Empfänglichkeit für diese Empfindsamkeit würde sich bereits vor der Pubertät entwickeln, ihren Auslöser also in der Kindheit haben.

Wer ausprobieren möchte, ob ASMR einen positiven Effekt auf den eigenen Körper hat, kann laut Poerio nach Videos mit dem Begriff „oddly satisfying“, also „seltsam befriedigend“ suchen. Diese Videos seien oft einfacher zugänglich: Zuseher:innen nehmen Maschinen wahr, die etwas auf ästhetische Art und Weise zerteilen oder in Form pressen, es sind symmetrische Bewegungen mit passenden Geräuschen. Diese Videos seien nicht so überfordernd wie jene mit Personen, die zusätzlich ins Mikrofon flüstern. 

Denn ASMR kann nicht nur durch Geräusche, sondern auch durch visuelle Reize ausgelöst werden. Ein bekanntes Beispiel dafür ist Bob Ross, der in den 80er- und 90er-Jahren in seinem Malkurs im US-Fernsehen die Zuschauer:innen mit sanfter Stimme von Pinselstrich zu Pinselstrich anleitete. Er gilt bis heute als einer der ASMR-Urväter.

Es gibt noch zu wenige Studienergebnisse, um abschätzen zu können, wie viele Menschen bei ASMR ein Kribbeln im Kopf verspüren. Es gibt jedoch Anzeichen dafür, dass es bei der Linderung von Schlafstörungen, Stress und Angstzuständen wirksam sein kann. Experte Claus-Christian Carbon warnt aber davor, psychische Erkrankungen damit zu behandeln. Als Begleittherapie könne das Phänomen jedoch sehr wohl Potenzial haben – denn alles, was zur Entspannung beiträgt, sieht der Psychologe als grundsätzlich positiv.

Julia Gschmeidler - Redakteurin: Neue Medien, Gesellschaft
Mag.ª Julia Gschmeidler, BSc - Redakteurin: Neue Medien, Gesellschaft Bild: VKI

Im KONSUMENT-Magazin und -Blog schreibe ich über Themen, die bewegen, aufgezeigt gehören, die gesellschaftspolitisch wichtig sind. Und ich möchte konstruktive Vorschläge liefern, wie man selbst aktiv werden kann.

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