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Franz Essl
Franz Essl ist Ökologe an der Universität Wien und Mitglied im Leitungsteam des 2019 gegründeten österreichischen Biodiversitätsrates. Bild: Walter Skokanitsch

Biodiversität - "Es braucht eine gravierende Kurskorrektur"

Das globale Artensterben ist dramatisch, lange können wir als Gesellschaft nicht mehr tatenlos zusehen, denn Ökosysteme drohen zu kollabieren, sagt der Ökologe Franz Essl im "Nachhaltigen Interview".

Franz Essl ist Ökologe an der Universität Wien und Mitglied im Leitungsteam des 2019 gegründeten österreichischen Biodiversitätsrates. Im KONSUMENT-Interview nimmt er kein Blatt vor den Mund: Ökosysteme drohen zu kollabieren; das Zeitfenster, in dem noch gegengesteuert werden kann, schließt sich.

KONSUMENT: Herr Essl, laut UNO-Bericht befinden wir uns im sechsten großen Artensterben der Erdgeschichte. Von den acht bis zehn Millionen Tier- und Pflanzenarten ist eine Million vom Aussterben bedroht. Das Bienensterben ist nur die Spitze des Eisbergs. Und Schuld trägt, wie bei der Klimakrise, wohl der Mensch. Doch sagen nach wie vor viele: „Was juckt mich das, mich trifft das eh nicht.“ Ein Trugschluss? Herr Essl: Dass wir Menschen das Ökosystem Erde übernutzen, Schrägstrich zerstören, steht völlig außer Frage. Die von Ihnen zitierten Zahlen sind ein absolutes Alarmsignal. Warum? Weil unsere Gesellschaft untrennbar eingebettet ist – und das zeigt die Corona-Krise sehr deutlich – in das Ökosystem Erde.

Welchen konkreten Nutzen haben intakte Ökosysteme für uns alle?
Unsere Nahrungsmittelproduktion hängt davon ab. Nur in einer ausbalancierten Umwelt kann sie langfristig gesichert werden. Intakte Ökosysteme sind auch Voraussetzung dafür, dass wir beim Klimawandel zumindest einen Teil der gravierendsten Folgen vermeiden können – Überschwemmungen, Hochwässer usw. Wenn wir Artenvielfalt, Biodiversität, intakte Ökosysteme und Ressourcen systematisch übernutzen, wenn wir Raubbau an Meeren oder Wäldern betreiben, dann geht das vielleicht eine Zeit lang gut. Aber irgendwann überschreiten wir sogenannte Kipp-Punkte, die zu immer gravierenderen und irreversiblen Schäden führen.

Zitat von Herrn Essl; "Man darf aufgrund der jetzigen Krise auf keinen Fall aus den Augen verlieren, was in den kommenden fünf, zehn Jahren für Problemsituationen auf uns zukommen. Es steht die Gesellschaft, so wie wir sie heute kennen, auf dem Spiel."

Und wie schnell könnten wir solche Kipp-Punkte erreichen?
Es ist unvorhersehbar, wann genau es passiert. Aber es kann sehr rasch gehen. Darum stelle ich bewusst den Konnex zur Corona-Krise her. Es ist ein Alarmsignal, das wir generell für unsere Gesellschaft ableiten können und sollten. Wir manövrieren uns in immer größere Risikozonen hinein. Das kann für unsere hochtechnisierte Gesellschaft schnell überfordernd werden. Jetzt ist es eine Pandemie. In einer anderen Situation ist es vielleicht ein gravierender Ernteausfall, der globale Folgen hat.

Artenvielfalt und Klimawandel

Ist die Menschheit lernfähig genug? Oder gehen wir nach Corona wieder rasch zurück zu business as usual?
Globale Umweltprobleme sind leider ungleich abstrakter als die unmittelbare gesundheitliche Bedrohung durch Corona. Damit tun wir Menschen uns schwerer. Aber es ist in der jüngeren Vergangenheit doch zu einem Wissens- und Verständnisgewinn gekommen, z.B. durch Fridays for Future. Ich hoffe, dass durch die Corona-Krise nun vielen die Verletzlichkeit unserer Gesellschaft klar wird. Es braucht eine gravierende Kurskorrektur. Wenn der Eisberg nur noch 100 Meter vor uns ist, dann ist es für eine Kurskorrektur des Schiffes wahrscheinlich zu spät.

Ist das Artensterben bei uns wirklich so bedrohlich? Oder ein Thema ferner Länder?
Das ist kein Problem ferner Länder. Tagtäglich gehen in Österreich an vielen Orten viele Arten zurück, sie verschwinden. Und das hat kumulativ gravierende Folgen. Wir wissen, dass wir in 20 Jahren etwa 40 Prozent der Brutvögel verloren haben werden – nur ein Beleg von vielen, dass wir in Österreich die Umwelt systematisch übernutzen. Das kann man sich eine Zeit lang leisten als Gesellschaft. Aber es ist ähnlich wie bei einem Bankkonto, das man überzieht. Irgendwann gibt’s ein Fälligkeitsdatum. Wir leben auf Pump, in Österreich wie auch weltweit.

Also steuern wir sehenden Auges auf gravierende globale Krisen zu.
Ja! Auch, weil der Verlust der Artenvielfalt ganz eng vernetzt ist mit dem Klimawandel. Nur intakte Ökosysteme bieten die Möglichkeit, den zunehmenden Extremereignissen einigermaßen entgegenzutreten. Es geht um eine langfristig gesicherte Lebensmittelversorgung, darum, dass Schaderreger sich nicht ungehindert ausbreiten können usw. Man darf aufgrund der jetzigen Krise auf keinen Fall aus den Augen verlieren, was in den kommenden fünf, zehn Jahren für Problemsituationen auf uns zukommen. Es steht die Gesellschaft, so wie wir sie heute kennen, auf dem Spiel. Die jetzige Krise zeigt aber auch, dass es möglich ist, gravierende Trendumkehrungen zu erreichen, mit einer hohen Akzeptanz der Bevölkerung: Wenn klar kommuniziert wird, dass es alternativlos ist.

Was ist die größte Ursache für die sinkende Biodiversität?
Es ist nicht eine Ursache allein. Vieles spielt da mit hinein. Die natürlichen Grenzen der Umwelt, der Welt werden nicht respektiert. Ein maßgebliches Problem in Österreich ist die intensive Landnutzung. Eine Bodenfläche von 20 Fußballfeldern wird in Österreich jeden Tag verbaut. Man kann sich ausrechnen, wann Österreich zubetoniert ist.

Stabiles Ökosystem und Landwirtschaft im Einklang?

Wie kritisch sehen Sie den intensiven Pestizid-Einsatz in der Landwirtschaft?
Ich möchte hier kein romantisiertes Bild der Landwirtschaft heraufbeschwören. Vor 50 Jahren war die Biodiversität zwar noch intakt, aber das Ertragsniveau war ungleich niedriger. Es braucht einen Weg, der beide Anforderungen – nämlich den Erhalt stabiler Ökosysteme und eine ertragreiche Landwirtschaft – vereint. Das wird zu einem gewissen Grad wohl auch den Einsatz von Pestiziden nach sich ziehen. Ich will nicht auf einzelne Pestizide eingehen. Aber man muss stark hinterfragen, in welchem Ausmaß und auch welche Mittel konkret zum Einsatz kommen.

Wie kann dieser Spagat geschafft werden?
Die landwirtschaftliche Nutzung wird sehr stark gesteuert durch die Agrarpolitik der EU. Den New Green Deal, der von Brüssel ausgegeben wurde, gut umzusetzen, bedeutet: Es braucht ein Umsteuern in der Landnutzung. Es muss sich für Landwirte mehr als jetzt rentieren, eine nachhaltige Landwirtschaft zu verfolgen. Viele ökologische Leistungen, die Landwirte erbringen, werden nicht ausreichend honoriert. Es braucht ganz klar mehr Förderungen, mehr Geld. Auch für nichtbäuerliche Grundbesitzer muss es in einem gewissen Ausmaß attraktiver werden, einen Beitrag für ein nachhaltiges, naturbewahrendes Österreich zu leisten. Auch das muss besser abgegolten werden. Es muss sich auszahlen, naturnahe Lebensräume zu schützen.

Ich versuche es noch einmal: Wie schnell muss der Kurswechsel vonstatten gehen, wann schließt sich das Fenster?
Die 2020er-Jahre sind sicher die entscheidenden für gravierende Weichenstellungen. Klimawandel, Artensterben – das sind keine Probleme, die man auf die nächste oder übernächste Legislaturperiode vertagen kann. Das ist kein Luxusthema, das ist eine Notwendigkeit.t.

Was kann jeder Einzelne tun?

Der österreichische Biodiversitätsrat fordert einen nationalen Fonds mit einer Milliarde Euro, um das Artensterben zu bremsen. Ist diese Forderung mehr Aktionismus als wirkliche monetäre Notwendigkeit?
Es ist eine Zahl, die wir ganz bewusst in die Diskussion gegeben haben – um klar zu zeigen: Ja, wir brauchen eine substanzielle Größe, um eine Trendwende zu erreichen.

Was kann jeder Einzelne tun?
Eine einzelne Person bzw. wenige können keine Trendwende herbeiführen. Man darf keine irrealen Erwartungen haben an die Wirkmächtigkeit, die man individuell hat. Das muss man schon realistisch betrachten. Aber natürlich, auch kleine Schritte sind wirksam. Zum Beispiel bei der Wahl der Lebensmittel. Müssen es immer die allerbilligsten sein – oder lieber doch solche, die gewissen Kriterien unterliegen, etwa biologisch produziert sind, oder wo ich den Landwirt kenne. Schon so kann ich einen Beitrag leisten. Beispiel Bio-Milch: Die kostet viel-leicht 10 bis 15 Cent mehr. Aber damit sichere ich eine nachhaltigere, auch kleinbäuerliche Landwirtschaft. Und leiste einen Beitrag dafür, dass die Landschaft in Österreich nachhaltig bleibt, Erholungsraum bleibt, wo auch viele Arten leben und überleben können.

Geht es auch um Verzicht?
Es geht darum, gewisse Lebensmittel weniger zu konsumieren als andere. Fleisch z.B. hat einen sehr großen ökologischen Fußabdruck, weil einfach viel mehr Landfläche dafür notwendig ist, eine intensive Fleischproduktion zu ermöglichen. Darüber hinaus hilft es auch sehr, sich als Bürger in einem zivilgesellschaftlichen Bereich, der in Richtung Nachhaltigkeit wirkt, zu engagieren.

Was kann man im eigenen Garten tun?
Es ist letztlich immer meine Entscheidung, wie ich meinen Garten gestalte. Welche Pflanzen möchte ich haben? Sind es solche, die auch wirklich Insekten Blumenblüten bieten oder muss der ganze Garten ein Rasen sein? Gartenteiche sind auch ganz wichtige Rückzugsräume für Amphibien geworden. Und natürlich sollte ich mir die Frage stellen: Muss ich wirklich Pestizide verwenden? Mit diesen vielen kleinen Handlungsmöglichkeiten können abwechslungsreiche Gärten geschaffen werden, wo man auch selbst erleben kann, wie Artenvielfalt zurückkehren kann.

Sind womöglich auch Balkonblumen und Kräuterkistln in der Stadt ein kleiner Beitrag?
Ich würde sagen: Ja! Garteln in der Stadt macht Landwirtschaft, macht Natur sichtbar, schon das allein ist positiv. Urban Gardening ist zudem die einfachste Möglichkeit, auch Städtern einen Bezug zur Landwirtschaft zu vermitteln. Es macht einen Riesenunterschied, wenn man weiß, was man tun muss, damit man am Ende des Tages etwas ernten kann. Wenn man weiß, was dazwischenkommen kann. Aber auch, dass es Spaß machen und befriedigend sein kann.

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