Hier ein Interview mit Univ.Prof. Dr. Lothar C. Fuith, erster Vorsitzender der Medizinischen Kontinenzgesellschaft Österreich (MKÖ) und Vorstand der Abteilung für Frauenheilkunde und Geburtshilfe im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Eisenstadt.
KONSUMENT: Wie viele Personen sind in Österreich von Inkontinenz betroffen?
Fuith: Leider gibt es bei uns dazu keine aktuellen Umfragen. Ich würde aber davon ausgehen, dass die Situation vergleichbar mit der in Deutschland ist. Demnach wären in Österreich bis zu eine Million Menschen betroffen. Dies umfasst allerdings alle Fälle. Von schweren Verläufen bis hin zu unwillkürlichem Harnverlust, der hin und wieder auftritt. Inkontinenz nimmt grundsätzlich mit dem Alter stark zu. Der Anteil Betroffener ist etwa in Seniorenresidenzen sehr viel höher als unter jüngeren Menschen.
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Inkontinenz-Experte Univ.Prof. Dr. Lothar C. Fuith |
KONSUMENT: Viele Betroffene haben Probleme, mit Inkontinenz umzugehen.
Fuith: Sehr viele Betroffene tun sich unglaublich schwer, darüber zu sprechen und sich jemandem anzuvertrauen. Einer Studie des österreichischen Gallup Institutes zufolge vertraut sich die Hälfte der Betroffenen nicht ihrem Hausarzt an. Sogar zwanzig Prozent derjenigen, die zehn Jahre oder länger darunter leiden, sprechen dies nicht an. Dabei hat ein falscher Umgang mit Inkontinenz nicht nur Folgen, was die Erkrankung selbst angeht. Die Heimlichtuerei führt in die soziale Isolation. Man fährt nicht mehr Bus, geht nicht mehr ins Theater oder ins Kino.
KONSUMENT: Was sind die Hauptursachen für Inkontinenz?
Fuith: Bei Frauen spielen Schwangerschaft und Geburt eine große Rolle. Dreißig Prozent aller schwangeren Frauen haben irgendwann einen nicht kontrollierten Harnabgang gehabt. Auch die Art und Weise, wie die Geburt erfolgt, hat einen Einfluss. Nach einer Zangengeburt oder wenn eine Saugglocke angewendet wird, sind Frauen in größerem Ausmaß betroffen als nach einem Kaiserschnitt. Leider wird in vielen Spitälern immer noch eine Zangengeburt praktiziert – ein Eingriff, der mit hohem Komplikationsrisiko verbunden und deshalb auch unter Experten geächtet ist. Bei vielen Männern tritt Inkontinenz infolge von bösartigen Prostataerkrankungen auf oder weil sie eine Operation am Darm oder am Rektum hatten.
KONSUMENT: Wann merke ich, dass ich unter Inkontinenz leide, was sind die Anzeichen?
Fuith: Es gibt verschiedene Formen von Inkontinenz. Manche leiden unter einer überaktiven Blase, einer sogenannten Dranginkontinenz, und müssen mehr als zehn Mal am Tag aufs Klo. Dies lässt sich teilweise bereits durch Verhaltensänderungen in den Griff bekommen. Wenn das nicht hilft, kann eine medikamentöse Behandlung hilfreich sein. Bei anderen Betroffenen äußert sich die Inkontinenz, wenn sie husten oder niesen müssen. Das nennt man Belastungsinkontinenz. Diese kann man mit Beckenbodentraining und konsequenter Physiotherapie behandeln. Wenn jemand das nicht will beziehungsweise massive anatomische Veränderungen bestehen (Scheidensenkung), hilft ein operativer Eingriff. Neben einer Senkungskorrektur wird bei der sogenannten Schlingenoperation in Kurznarkose unter der Harnröhre eine Schlinge eingezogen. Die Erfolgsquote liegt bei neunzig Prozent. Behandlungen und OP werden jedoch trotz der hohen Erfolgsquote oft nicht in Anspruch genommen.
KONSUMENT: Warum ist das so?
Fuith: Das hat mit der bereits erwähnten Tabuisierung von Inkontinenz zu tun. Dabei wäre es sehr wichtig, sich früh einem Arzt anzuvertrauen. Denn hinter der Inkontinenz kann natürlich auch eine ernsthafte Erkrankung stecken. Man muss nicht gleich eine Spitalsambulanz oder einen Facharzt aufsuchen. Es wäre schon gut, wenn die Betroffenen zum Hausarzt gehen würden.
KONSUMENT: Wie sinnvoll ist es, Einlagen und Windelhosen zu verwenden?
Fuith: Derartige Inkontinenzprodukte sind zwar notwendig, aber viele bräuchten sie gar nicht. Wer eine Inkontinenz durch das Tragen von Einlagen oder Windelhosen kaschiert, anstatt zum Arzt zu gehen, tut sich damit keinen Gefallen. Das Ziel sollte sein, die Inkontinenz zu heilen, anstatt Hilfsmittel zu benutzen. Deshalb sehen wir die Benutzung dieser Produkte ohne Therapie etwas kritischer. Es ist in Ordnung, sie sicherheitshalber zu verwenden – etwa, wenn man eine Veranstaltung besucht. Aber es ist kontraproduktiv, sie zu verwenden, nur weil man Hemmungen hat, zum Arzt zu gehen. In Pflegeheimen wird relativ schnell ein Katheter gesetzt.
KONSUMENT: Wie stehen Sie dazu?
Fuith: Dies ist eine hochproblematische Praxis. Leider ist der Dauerkatheter bei Harninkontinenz in Pflegeheimen gang und gäbe. Medizinisch gesehen ist das ein Unsinn. Die Konsequenzen sind häufig Dauerinfektionen und Folgeprobleme. Und ist der Dauerkatheter bei pflegebedürftigen Menschen einmal gesetzt, werden sie ihn kaum noch los.