- Wer ist wirklich depressiv und benötigt Behandlung?
- Was sind die Ursachen? Welche aktuellen Therapiekonzepte gibt es?
- Das sind Themen unseres neuen Ratgebers, aus dem wir einen Vorabdruck veröffentlichen.
Wo verläuft die Grenze zwischen seelischer Verstimmung und Depression? Das Gefühl von Niedergeschlagenheit, Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit ist ja nichts Außergewöhnliches, es überkommt jeden von Zeit zu Zeit. Was ist normal, was pathologisch?
Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Eine Depression ist nicht mittels Röntgen- oder Blutbild nachweisbar, nicht einmal mittels Hirnscan. Da hilft kein Fieberthermometer, auch keine Gewebeprobe. Es fehlen jene Laborparameter, mit denen Mediziner üblicherweise arbeiten. Keine technische Apparatur hilft dem Arzt hier also weiter, doch es gibt eine Art Messinstrument, und das ist in der Regel ein standardisierter Fragebogen.
Kriterien der WHO
Seit den 1990er-Jahren definiert die WHO Depressionen allein über ihre Symptome, festgelegt in der ICD-10 (International Classification of Diseases), in der nach internationaler Übereinkunft alle Krankheiten aufgelistet und definiert sind.Die ICD wird unter Berücksichtigung neuer Erkenntnisse laufend überarbeitet und weiterentwickelt, derzeit liegt die zehnte Fassung vor, daher auch die Bezeichnung ICD-10. Die WHO sieht Depressionen durch bestimmte Symptome charakterisiert, wobei sie zwischen „Hauptsymptomen“ und „weiteren Symptomen“ unterscheidet. Um von einer Depression sprechen zu können, müssen laut ICD-10 mindestens zwei der drei angeführten „Hauptsymptome“ vorliegen und zwei „weitere Symptome“.
„Verlust von Interesse und Freude“
Wer depressiv ist, muss gar nicht einmal „depressiv verstimmt“ sein – wenn denn die beiden anderen „Hauptsymptome“ vorliegen, nämlich „Verlust von Interesse und Freude“ und „erhöhte Ermüdbarkeit“.
Ein weiteres Kriterium, das die WHO zugrunde legt, ist die Dauer des Leidensdruckes: Mindestzeit zwei Wochen. Sie bestimmt in Abhängigkeit von der Anzahl der vorliegenden Symptome auch den Schweregrad der Depression, von leicht über mittelgradig bis schwer.
Seele, Geist und ICD
Und wenn nun das Leiden bloß über elf Tage andauert? Dann liegt nach dem ICD-10-Kriterienkatalog bei strenger Auslegung keine Depression vor. Die Festlegung der WHO erscheint sehr schematisch – und das ist sie auch. Genaue Auflistung, viele Unterkategorien: ein typisches Beispiel dafür, wie die heutige Medizin etwas in den Griff zu bekommen versucht, das auf den ersten Blick nicht greifbar zu sein scheint. Das, was wir vage mit „Seele“ und „Geist“ umschreiben, versucht sie mit einem detaillierten Kriterienkatalog dingfest zu machen. Bei aller Bemühung um Eindeutigkeit – es bleibt ein großer Interpretationsspielraum.