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Chronische Schmerzen - Hilfe-Schrei des Körpers

Schmerzen lösen eine ganze Kaskade von bekannten Reaktionen und Rückkoppelungen im Körper aus. Dennoch ist Schmerz nicht gleich Schmerz, und das macht die Therapie oft genug sehr schwierig.

Stehen geht nicht. Liegen auch nicht. Sitzen schon gar nicht. Herr Schmidt ist verzweifelt. Ihn plagen ständige Rückenschmerzen. Die Herausforderungen des Alltags bewältigt er nur mit größter Mühe, in der Nacht kann er vor Schmerzen nicht schlafen. Vor einem Jahr begann es. Er erinnert sich noch genau. Es war der erste Schnee, er hatte es eilig in die Arbeit und musste noch das Auto freischaufeln. Dabei schoss plötzlich ein Stich in seinen Rücken. Seitdem sind Schmerzen sein ständiger Begleiter.

Schmerzmittel

Von seinem Hausarzt bekommt Herr Schmidt regelmäßig Schmerzmittel verschrieben. Die helfen allerdings nicht viel, setzen vielmehr seinem Magen zu. Bei der Untersuchung im Spital kann keine ausreichende Erklärung für die Schmerzen gefunden werden. Es ist kein Gewebeschaden feststellbar, also müsste doch alles in Ordnung sein. Langsam beginnt Herr Schmidt an sich selbst zu zweifeln: Was ist mit mir los? Ich habe doch Schmerzen – warum kann man nichts finden? Oder bilde ich mir die Schmerzen vielleicht nur ein? Spinne ich jetzt schon?

Keine Ursache

Dr. Herwig Kropfmüller kann ihn beruhigen. Nichts Außergewöhnliches! So etwas gibt es: Schmerzen, für die keine Ursache ge­funden werden kann, zumindest keine am Röntgenbild ersichtliche. Das hat, erklärt der Spezialist vom Schmerzkompetenzzentrum in Bad Vöslau, mit der Eigenart des chronischen Schmerzes zu tun, mit dessen komplexer Struktur.

Von chronischem Schmerz ­sprechen wir gewöhnlich, wenn ein Schmerzgeschehen länger als ein halbes Jahr an­dauert oder stetig wiederkehrt und sich somit zu ­einem eigenständigen Krankheitsbild entwickelt hat. Abzugrenzen ist diese Schmerzform vom sogenannten akuten Schmerz, den jeder kennt.

Die Schmerzmatrix

Alarmreaktion

Klassisches Beispiel: Das Kind verbrennt sich die Hand an der heißen Herdplatte. Wie reagiert der Organismus darauf? Nozizeptoren, Schmerzfühler in der Haut, melden den Vorfall über das Rückenmark ans Gehirn. Das geschieht innerhalb von Sekundenbruch­teilen, noch bevor diese Information im ­Gehirn ankommt, wo sie als Schmerz interpretiert und als Gefahr abgespeichert wird und wo augenblicklich Botenstoffe zur Einleitung einer Alarmreaktion ausgesendet werden.

Bevor also all dies im Gehirn geschieht, ergeht unmittelbar vom Hinterhorn, jener ­Stelle, wo das Schmerzsignal in das Zentrale Nervensystem eintritt, ein Befehl an die involvierten Muskeln, die Hand sofort zurückzuziehen. Ein wichtiger, ja lebenswichtiger Reflex: Auf diese Weise wird größerer Schaden vermieden. So gesehen ist der akute Schmerz eine sinnvolle Einrichtung: Er signalisiert eine Gefahr und veranlasst den Be­troffenen zum sofortigen Handeln.

Die Schmerzkaskade

Wenngleich wir hier die Abläufe nur sehr verkürzt wiedergeben, sollte doch ersichtlich sein, dass der akute Schmerz eine Kaskade von Reaktionen und Rückkoppelungen auslöst und – das ist der springende Punkt – die Weiterleitung nicht bloß in einer Richtung erfolgt, hin zum Gehirn, sondern auch in ­umgekehrter, vom Gehirn weg.

Seit Mitte der 1960er-Jahre weiß man um diesen ­Mechanismus mit den auf- und ableitenden Bahnen, ist die sogenannte Gate-Control-Theorie bekannt, die die zentrale Rolle des Hirns in der Schmerzverarbeitung betont: Es kann sowohl verstärkend als auch dämpfend auf das Schmerzempfinden einwirken. Manche Neurowissenschaftler sind gar der Ansicht, dass durch Fehlschaltungen in diesem Netzwerk von Milliarden Neuronen auch Schmerzsignale ausgesendet werden ­können, ohne dass ein Gewebeschaden vorliegt.

Schmerzmatrix

Dr. Kropfmüller skizziert auf einem Blatt ­einen Menschen. Dann zeichnet er unzählige Striche ein, Bahnen, die vom Kopf zum ­Körper und wieder zurückführen, von einem Hirn­areal zum anderen, vom limbischen ­System zur Großhirnrinde – schließlich ist vom Menschen vor lauter Strichen kaum noch etwas zu sehen: die sogenannte Schmerzmatrix.

Beim chronischen Schmerz läuft dieses überaus verzweigte System ­quasi aus dem Ruder, aufgrund von Infektionen, Verletzungen oder psychischen Belastungen – die Schmerzsignale erfüllen dann keine biologische Funktion mehr. Der Fehler kann in den Schmerzbahnen oder auch im Hirn liegen. Eine Entkoppelung ist in beide Richtungen möglich: schädliche Reize ohne Schmerzempfindung und Schmerz ohne ­echten Schaden. Hier zeigt sich die elementare Verflochtenheit von Physis und Psyche.

Ganzheitlicher Therapieansatz

Überholtes Modell

Wie gesagt: Dieses System ist seit Langem bekannt. Entdeckt wurde es von den beiden Schmerzforschern Ronald Melzack und ­Patrick Wall. Nur ist es in den Köpfen der meisten Menschen noch nicht angekommen. Da dominiert noch die 400 Jahre alte, auf Descartes zurückreichende Vorstellung, ­wonach beim Schmerz ein Reiz am Nerv wie an einer Klingelleitung zieht, die im Gehirn die Glocke schellen lässt. Ein überholtes ­mechanistisches Modell! Doch selbst manche Ärzte hängen ihm noch an: Für sie sind fehlende "objektive Befunde" ein Indiz für "fehlende Krankheit".

Ganzheitlicher Ansatz

Für Dr. Kropfmüller ist der chronische Schmerz ein multifaktorielles Geschehen. Psychische, soziale und somatische Ereig­nisse spielen da mit hinein. Daher verfolgt er in der Therapie auch einen ganzheitlichen Ansatz. Bei Herrn Schmidt wird er sich nicht nur den Rücken genauer anschauen – besser gesagt, ihn eine Tür weiter im Schmerz­kompetenzzentrum von einem Orthopäden untersuchen lassen –, er wird auch dessen Leben genauer unter die Lupe nehmen.

Gibt es ­Probleme im Beruf? Macht der Chef Stress? ­Betreibt Herr Schmidt Sport? Gönnt er sich zwischen­durch Auszeiten? Ist er ein eher leistungs­orientierter Mensch, der sich selbst unter Druck setzt? Hat er Freunde, Hobbys, wo er Ablenkung findet? Welche Ängste plagen ihn? Findet er Liebe und Fürsorge in der Familie? Gibt es frühkindliche Schmerzerfahrungen? Alles das sind Faktoren, die eine Rolle spielen können und daher potenzielle Ansatzpunkte zur Schmerzreduktion sind.

Kein Wundermittel in Sicht

Am Anfang steht das Gespräch, die genaue Anamnese. Schmerzpatienten fühlen sich mit ihrem Leid oft allein gelassen. Denn ­welcher Hausarzt nimmt sich heute noch die Zeit für ein ausführliches Gespräch, kann sie sich nehmen – die wird ja von den Krankenkassen kaum erstattet? Das ist auch der Grund, wieso sich nur große Kliniken Schmerzambulanzen leisten können – Geld wird damit nicht gemacht; Geld wird mit künstlichen Hüftgelenken gemacht.

Chronischer Schmerz ist ein Tyrann. Er raubt den Betroffenen alle Energie und macht aus grundzufriedenen Menschen getriebene Menschen. Lieber gestern als heute wollen sie den Schmerz wieder loshaben. Der Wunsch ist verständlich – und gern vermitteln Medizin und Medien ein übertrieben positives Bild dessen, was die mo­derne ­Medizin alles kann. Doch dieses eine Wunder­mittel, das alle Probleme auf einen Schlag löst, ist nicht in Sicht. Oder mit ­starken Nebenwirkungen verbunden.

Dr. Kropfmüller verfolgt einen multimodalen Weg. Eine Kombination von mehreren Ansätzen, von Arznei und Bewegung, von Psychotherapie und Physiotherapie, von Neurologie und Anästhesie, von Akupunktur und Schul­medizin, abgestimmt auf den jewei­ligen Patienten. Man könnte auch von ­einem Mehrfrontenangriff sprechen, den er im inter­disziplinären Austausch mit kooperierenden Ärzten und Therapeuten entwickelt.

Mit dem Schmerz leben

Oft kommt der Patient nicht umhin, seinen Alltag neu zu ordnen, mit weniger Stress und mehr Entspannung. Seine Mitwirkung und sein Engagement sind gefragt, seine Ressourcen, um das aus der Balance geratene Leben wieder in ein Gleichgewicht zu bringen. Chronische Schmerzen zeigen an: So wie ­bisher darf es nicht weitergehen. Insofern können sie doch einen Sinn haben.

Wer unter dauernden Schmerzen leidet, dessen Gedanken kreisen auch ständig um diese Pein. Aus diesem Grund lernt der Patient in der Therapie nicht zuletzt, seinen Fokus wieder auf andere Dinge zu richten. Denn schon Ablenkung hilft. Nicht immer wird völlige Schmerzfreiheit erzielt. Es ist aber schon viel gewonnen, wenn der betroffene Mensch ­einen Modus findet, mit den ständigen Schmerzen zu leben.

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