Digitale Barrierefreiheit
Moderne Geräte sind für Menschen mit Behinderung oft eine Herausforderung. Gute Ansätze sind vorhanden, doch der Optimierungsbedarf ist noch immer groß.
Oft Unterstützung notwendig
Wenn Daniele Marano sich eine Stereoanlage oder einen Fernseher anschaffen möchte, spielt das Display bei der Auswahl eine entscheidende Rolle. Viele moderne Geräte verfügen über Touchdisplays, die für blinde Menschen ohne Sprachsteuerung eine große Herausforderung darstellen. Sind Tasten vorhanden, sind deren Beschriftungen oft zu klein und der Kontrast zu schwach.
Marano, Projektmanager bei der Hilfsgemeinschaft für Blinde und Sehschwache und selbst sehbehindert, benötigt bei der ersten Inbetriebnahme eines Fernsehers oft die Unterstützung Sehender, um die Sprachsteuerung in den Einstellungen zu aktivieren. „Ideal wäre es, wenn man beim ersten Einschalten gefragt wird, ob man Hilfe benötigt“, erklärt Marano. „Einstellungen zur Barrierefreiheit sollten nicht in einem Untermenü versteckt sein.“ Marano plädiert für eine individuellere Anpassung der Displays.
Kein Mehraufwand
Er betont, dass Barrierefreiheit kein Mehraufwand ist, wenn von Anfang an die Bedürfnisse von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen berücksichtigt werden. Alterssimulatoren, wie sie die Hilfsgemeinschaft nutzt, verdeutlichen, wie ältere Personen mit den Geräten umgehen. Zwar hat die Digitalisierung die Zugänglichkeit bei Unterhaltungselektronik verbessert, doch bei Haushaltsgeräten und Fernbedienungen gibt es noch großen Optimierungsbedarf.
Inklusives Design
„Inklusives Design bedeutet, dass man nicht etwas für jemanden machen kann, den man nicht versteht“, ist Google-Manager Christopher Patnoe überzeugt. Bei grundlegenden Innovationen muss das Know-how von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen einbezogen werden. Patnoe arbeitet seit zwölf Jahren bei Google.
Er erinnert sich, was er am Anfang über Barrierefreiheit gelernt hat. Eine blinde Testingenieurin erklärte ihm, dass Google Play Music, für das er verantwortlich war, nicht für jeden zugänglich war. „Sie schaltete die Sprachausgabe ein und ich hörte ‚Knopf‘, ‚Knopf‘. Ich fragte, was das sei. Sie sagte: ‚So hört sich Google Play Music für Blinde an‘“, erzählt Patnoe. Als er fragte, wie blinde Menschen es benutzen, sagte sie: „Deshalb bin ich hier.“ Sie verbesserten die Musikplattform und machten auch Dienste wie Google Play, Google Books und den Google Store zugänglicher.
Patnoe leitet jetzt die Abteilung „Zugänglichkeit und Integration“ und ist auch dafür verantwortlich, dass das Unternehmen ein guter Arbeitgeber für Menschen mit Behinderungen ist.
Online-Spiele als Motor
Expert:innen haben festgestellt, dass Barrierefreiheit in der Unterhaltungselektronik in den letzten zehn Jahren immer wichtiger geworden ist. „Die Unternehmen wetteifern darum, Spiele so zugänglich wie möglich zu machen“, erklärt Christopher Patnoe.
Microsoft ist mit dem „Xbox Adaptive Controller“ ein Vorreiter in diesem Bereich. An seiner Entwicklung waren Behindertenorganisationen beteiligt. Der Controller ist die zentrale Einheit; externe Schalter, Tasten, Halterungen und Joysticks können angeschlossen werden. Tastenbelegung und Profile sind anpassbar. Der Controller ist mit Xbox One und Windows-PCs kompatibel.
Während der Super Bowl 2019 machte Microsoft mit einem TV-Spot auf sich aufmerksam, in dem Kinder mit Controllern spielen. Die Botschaft: Wenn jeder spielen kann, gewinnen wir alle. Andere Unternehmen erkannten, dass Barrierefreiheit Geld bringt, Gamer-Organisationen wie „The Able Gamers Charity“ bekamen mehr Aufmerksamkeit.
Anstecken und los
Trotz mehrfacher Anfragen wollten keine Verantwortlichen von Microsoft Österreich, Sony oder Nintendo ein Interview geben, obwohl sie Möglichkeiten zum barrierefreien Spielen bieten. So sind zum Beispiel Text-to-Speech und Bildschirmeinstellungen für Menschen mit Sehbehinderungen Standard.
Iris Kopera ist großer Videospielfan: Besonders gut gefällt ihr die Nintendo Switch: „Man kann sie unterwegs benutzen, will man vor dem Fernseher spielen, steckt man sie ein und schon geht’s los. Andere Geräte sind kompliziert“, sagt Kopera, die eine Behinderung hat. Bei anderen Konsolen müsse man für Sportspiele teure Zusatzgeräte kaufen.
Gesetzliche Regelungen
Was im Gaming-Bereich in Bezug auf Barrierefreiheit geschieht, soll auch in anderen Bereichen der digitalen Welt Usus werden. Das besagt unter anderem der European Accessibility Act, der im Jahr 2025 in Kraft tritt. Alle Produkte und Dienstleistungen müssen im digitalen Bereich europaweit den gleichen Barrierefreiheitsanforderungen entsprechen. Das gilt für PCs, Smartphones, Smart-TV-Geräte, Spielkonsolen und Dienstleistungen wie E-Banking, Videotelefonie oder Messenger.
Klaus Miesenberger, Professor für Informatik an der Johannes-Kepler-Universität in Linz, beschäftigt sich seit Ende der 80er-Jahre mit digitaler Barrierefreiheit. Einer seiner Schwerpunkte liegt im Software-Engineering. Mit Studierenden und Beschäftigten des Instituts arbeitet er an assistierenden Technologien. Allein die ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit) der Weltgesundheitsorganisation enthält über 1.400 Kategorien von funktionellen Beeinträchtigungen von Menschen.
Schnittstellen-Frage
„Wenn ich der Industrie vorgebe, ein Produkt zu schaffen, dass für alle gleich zugänglich ist, entsteht ein Monstrum an Technologie, dass das erfüllen soll“, so Miesenberger. Abhilfe schaffen könnte, „wenn die Anbieter Geräteschnittstellen zur Verfügung stellen“. Es gelte, diese so zu programmieren, dass sie via Bluetooth oder andere Kanäle mit dem Smartphone verbunden und etwa mit Sprachsteuerung bedient werden können. Einige TV-Geräte lassen sich mit dem Handy verbinden, andere Haushalts- und Unterhaltungsgeräte noch nicht.
„Für viele Betriebe ist das Interface ein Marketinginstrument. Sie haben Angst, dass Techriesen das übernehmen und sie mit den von ihnen entwickelten Funktionalitäten nicht mehr präsent sind.“ Angst sei aber die falsche Antwort. In der Digitalisierung hänge Erfolg von Einbindung der Daten und der „User Experience“ ab. Bei der Mensch-Computer-Schnittstelle könne Barrierefreiheit effizient realisiert werden.
Ein digitaler Raum für alle
Mittels eines Vereins beschäftigt die Uni Linz sechs Menschen mit Lernschwierigkeiten, um sie als Co-Forschende auszubilden. Eines der internationalen Projekte, an dem sie arbeiten, heißt „Easy Reading“. Das Softwaretool macht Informationen im Internet für Menschen mit Lernschwierigkeiten besser zugänglich. Wer etwas nicht versteht, aktiviert Easy Reading, und kann direkt auf der Website eine sprachliche Erklärung oder Bilder eingeblendet bekommen.
Es gibt Lesehilfen, die Bilder und andere Reize ausschalten. „Unsere Zielgruppe hat sich gewünscht, dass all das auf der Originalseite passiert“, betont Miesenberger. Schritt für Schritt könnte künftig durch KI Gebärdensprache in digitale Lösungen einfließen.
Google begann vor mehr als 15 Jahren mit der Erstellung von elektronischen Untertiteln auf YouTube. Mittlerweile gibt es Untertitel in vielen verschiedenen Sprachen, sowie Audiobeschreibungen und eine Bildschirmlupe auf Google TV. Im Jahr 2018 führte Google die „Lookout-App“ ein. Diese hilft Menschen mit Sehbehinderungen, sich in ihrer Umgebung besser zurechtzufinden.
Automatische Untertitel
Die Funktion „Live Caption“ generiert automatisch und in Echtzeit Untertitel für fast alle Audioinhalte auf Android. Live Caption ist nützlich für Menschen mit Hörbehinderungen und für Situationen, in denen sie den Ton nicht einschalten können.
Zu den neueren Angeboten gehört „Live Transcribe“, das Transkriptionen in Echtzeit in über 80 Sprachen erstellt. Diese Funktionen sind kostenlos. Die Kamera bestimmter Android-Smartphones verfügt über eine Funktion namens „Guided Framevoice Assistant“, die blinden Menschen hilft, ein gutes Selfie zu machen. „Es ist das gleiche Telefon, das jeder benutzt“, betont Google-Manager Patnoe. „Niemand will separate, barrierefreie Versionen, jeder will die gleichen Dinge tun und Spiele spielen.“
Zurück ins Elektronikgeschäft: Damit Kund:innen mit Behinderung geeignete Geräte finden, braucht es Großhändler und Verkaufspersonal, die die Bedeutung von Barrierefreiheit erkennen. „Ich wünsche mir, dass vom Hersteller bis zum Verkäufer das Bewusstsein für eine barrierefreie Produktgestaltung und dadurch eine bessere Usability wächst“, betont Daniele Marano.
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