Krankheitskataloge
Das DSM kam 1952 auf, die Ursprünge des ICD reichen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurück. Dieser Katalog der WHO umfasst nicht nur psychiatrische Krankheiten, sondern sämtliche. Beide Systeme werden regelmäßig überarbeitet. Aktuell gelten die Fassungen DSM-V und ICD-10.
Das DSM dient üblicherweise als Grundlage auf wissenschaftlichen Kongressen, während das ICD insbesondere in der täglichen Praxis zur Anwendung kommt, nicht zuletzt in der Abrechnung mit den Krankenkassen. Im Großen und Ganzen ähneln sich beide Systeme, doch nicht immer marschieren sie im Gleichschritt.
Definition von Angsstörung anhand von Symptomen
1980 ersetzte die Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft die Bezeichnung „Angstneurose“ durch „Angststörung“. Mit der Namensänderung ging eine Neubestimmung pathologischer Angst einher. Nicht länger erklärte das DSM die Angststörung durch mögliche Ursachen, sondern es definierte sie anhand bestimmter Symptome. Statt die Gemeinsamkeiten zu betonen – Neurosen und Depressionen wurden traditionell auf einer Ebene angeordnet –, wurden jetzt die Unterschiede herausgearbeitet. Die Folge davon war, dass sich die Therapie der Angstpatienten von der Couch in die Praxis des Allgemeinmediziners verlagerte. Die Psychoanalyse, deren Begründer Sigmund Freud den Begriff „Angstneurose“ geprägt hatte, verlor an Macht zugunsten von anderen Therapieformen, nicht zuletzt solchen, die auf die Behandlung mit Medikamenten setzen.
Klassifizierung als Krankheit
Weiters führte das DSM im Jahr 1980 sowohl die „soziale Phobie“ als auch die „generalisierte Angststörung“ als klinische Kategorie ein. Zu diesem Zeitpunkt kannte das ICD diese Krankheiten noch nicht, erst elf Jahre später, im Jahr 1991, nahm es beide in seinen Krankheitskatalog auf. Woran man einmal mehr sieht, dass die Klassifizierung eines Leidens als Krankheit auch immer etwas Zeitgebundenes, ja Willkürliches hat. In den folgenden Jahren wurde das Spektrum der Angststörungen sukzessive erweitert, wobei die Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft eine Art Vorreiterrolle einnahm und die WHO mit einiger Verzögerung nachzog.
Details in Krankheitskatalogen entscheidend
Oft sind es nur Details, die den Unterschied zwischen den beiden Krankheitskatalogen ausmachen. Doch diese Details können im Einzelfall darüber entscheiden, ob jemand Anspruch auf Krankengeld hat oder nicht. Das DSM unterscheidet bei „sozialer Phobie“ zwischen einer spezifischen und einer generalisierten Variante, das ICD nicht. Das DSM zählt auch Zwangsstörungen zur Kategorie der Angststörungen, das ICD nicht. Mit jeder neuen Überarbeitung kann sich die Situation wieder ändern – gerade ist das ICD-11 in Begutachtung. Wie man hört, soll der Katalog um 6.000 neue Krankheiten aufgestockt werden.
Machtkämpfe
Wer nun denkt, da ringen die Frauen und Herren Professoren um nichts als die Wahrheit, macht sich wohl ein falsches Bild. Es geht dabei auch immer um Machtkämpfe: die eine Psychiatervereinigung gegen die andere, Gesprächs- gegen Verhaltenspsychologen, Behavioristen gegen Psychopharmakologen. Schließlich steht viel Geld auf dem Spiel. Mit jeder neu eingeführten Krankheit vergrößert sich der Markt für die Therapeuten, allerdings nicht für alle.
Werfen wir einen kritischen Blick in eines der beiden Klassifikationssysteme: Bei einer der aufgelisteten Störungen lesen wir etwa, dass zu deren Diagnose von 13 angeführten Symptomen mindestens vier gegeben sein müssen. Warum eigentlich nicht drei oder fünf? Was zunächst den Anschein größter Exaktheit hat, wirkt oftmals beliebig. Es wird versucht, mit einem starren System ein so dynamisches Geschehen wie die Angst in den Griff zu bekommen.
"Entscheidende" Einschränkung im Alltag?
Manche brechen die genauen Angaben in den beiden Klassifikationssystemen auf eine einfache Frage herunter: Fühlen Sie sich durch Ihre Angst im Alltag entscheidend eingeschränkt? Wenn ja, liege eine pathologische Form der Angst vor. Doch was heißt „entscheidend“? Jeder versteht etwas anderes darunter. Hinzu kommt, dass selbst starke Angstempfindungen Folge oder Begleiterscheinung einer anderen Erkrankung sein können.
Einschätzung der Angst: fließende Übergänge
Der Mensch wünscht sich Klarheit. Womit er gar nicht zurechtkommt, ist Unsicherheit. Doch viel öfter, als es uns lieb sein kann, besteht das Leben nicht aus Schwarz und Weiß, sondern aus Grautönen. Ob die Angst bereits pathologischen Charakter aufweist, ist im Einzelfall oft schwer zu entscheiden, die Übergänge sind fließend. Und wie wir bereits betont haben: Jede Zeit nimmt wieder eine andere Grenzziehung vor.