Interview: "Sport ist Lebensqualität"
Univ.Prof. Dr. Hans Tilscher,
Orthopädisches Spital
Wien-Speising
Nordic-Walking ist zu
einem Trendsport geworden. Ist das aus der Sicht der Orthopädie zu
begrüßen?
Beim Walken, ebenso wie beim Laufen oder
Radfahren, soll das Herz-Kreislauf-System belastet werden, um damit einen
Trainingseffekt zu erzielen. Bei jedem Kreislauftraining
werden aber meistens nur die Beine belastet, aber nicht
die Schultern.
Der Vorteil des Nordic Walking gegenüber dem Gehen ohne Stöcke ist der, dass
auch die Schulter eingesetzt wird. Wir haben das Bergwandern mit Stöcken ja
schon vor 20 Jahren propagiert. Denn wenn Sie Stöcke einsetzen, bewegen Sie den
ganzen Körper, aktivieren auch die Schultermuskulatur, Trapezmuskel,
Deltamuskel, Brustmuskel oder die Schulterblattfixatoren: Das ist vom
orthopädischen Standpunkt aus gesehen sehr zu begrüßen.
Das Gehen mit Stöcken
ist eindeutig im Vorteil?
Sicher. Wenn Sie überlegen, wie die Leute früher gegangen sind: mit einem
Rucksack – einem alten Rucksack, der an der Schulter gehangen ist und nicht an
einem Beckengurt abgestützt war. Sie haben sich an den Schulterriemen
angehalten, was nicht nur dazu führte, dass die Riemen die Schultern
eingeschnitten haben, sondern auch dazu, dass aufgrund von Zirkulationsstörungen
die Hände eingeschlafen sind. Daher kann eine Orientierung am Vierfüßlergang –
und das Gehen mit Stöcken ist ja wirklich eine Imitation davon – physiologisch
nur positiv gesehen werden.
Ist das jetzt das
Nonplusultra im Sinne einer gesunden sportlichen Betätigung?
Wenn Sie gesund sagen, müssen Sie hinzufügen für wen. Es gibt einen
Jugendsport, der ganz andere Zielrichtungen als der Erwachsenensport hat, und
dann gibt es auch noch einen Seniorensport. Und beim Seniorensport gilt es immer
zu bedenken, dass meist Beschwerden bestehen. Da fängt es an, medizinisch zu
werden. Es hängt dabei vom Konstitutionstyp bzw. vom orthopädischen Befund ab,
was man den Menschen empfehlen und wovon man eher abraten soll. Aufgabe der
Medizin ist es, alle Maßnahmen zu treffen, Menschen den Sport zu ermöglichen und
nicht zu verbieten. Denn Sport bedeutet Lebensqualität.
Aber Sport sollte ja
auch der Gesundheit förderlich sein.
Sport heißt eigentlich sich zerstreuen. Er soll also primär Lustgefühl
erwecken. Natürlich soll er darüber hinaus auch gesundheitsfördernde Effekte
haben. Nur wenn Sie Sport einseitig als Leistungssport oder Kampfsport
betreiben, kann man dem von gesundheitlicher Seite nicht mehr viel abgewinnen.
Wenn Sie etwa an Triathlon denken, dafür ist der Körper einfach nicht gedacht.
Oder dass sie 5 Meter stabhochspringen, oder 7 Meter und mehr
weitspringen...
Aber das sind Extremfälle. Das Problem, das wir in den Industrieländern
haben, ist ein anderes: Unser Körper war ursprünglich für eine tägliche
Belastung gedacht – für die Suche nach Nahrung, zur Flucht oder zum Angriff.
Durch die Zivilisation, letztendlich durch den Getreideanbau, konnte die
Ernährung eines großen Kollektivs gesichert werden. Das hat zur Arbeitsteilung
geführt und dazu, dass die meisten Arbeiten heute im Sitzen durchgeführt werden.
Und eigentlich sollte Sport, das ist mein Wunsch, das durch die Zivilisation
verloren gegangene Ausmaß an Bewegung wieder ersetzen.
Gut, und wie geht man
da jetzt am besten vor?
Also ich zum Beispiel habe gerade meinen Trainingsanzug an, ich laufe seit
dem Jahr 1971 – damals hat man das Wort Joggen noch nicht gekannt –, ich laufe
und ich mache Gymnastik. Sie wissen, wir machen österreichweit
Wirbelsäulenprävention im Rahmen der Aktion SOS Körper. Wir haben, soweit ich
weiß, bis heute über eine Million Informationsbroschüren verteilt. Es ist
wichtig, dass Sie neben einem Kreislauftraining (ob Walken, Laufen oder
Radfahren) diese Turnübungen täglich machen, denn die würden einen großen Teil
dieser verloren gegangenen Bewegungen ersetzen.
Das gilt auch für
gesunde Menschen, die keine Leiden haben?
Das betrifft auch und besonders gesunde Menschen. Und weil Sie
diese Frage stellen, möchte ich eines erwähnen: Ich freue mich sehr über die
Aktivitäten des Gesundheitsministeriums zur Förderung der Bewegung, aber ich sehe darin eigentlich
nur Kreislauftraining berücksichtigt. Dabei wird Folgendes übersehen: Die wichtigste Krankenstandsursache sind Störungen des
Stütz- und Bewegungsapparates. Die bei weitem häufigste Ursache für Frührenten ebenso – 44 %
aller Frührenten sind auf den Bewegungsapparat zurückzuführen.
Keine Vorsorge
Und dennoch findet sich im Gesundheitsprogramm des Ministeriums nicht der
geringste Ansatz an Wirbelsäulenprävention. Das ist keine Kritik, es fällt mir
nur auf. Ich würde doch meinen, dass wir einer 60- oder 70-Jährigen, die in
einem Gemeindebau wohnt, nicht den Aufzug verbieten sollten, sondern ich bin
froh, dass sie den Aufzug hat und damit überhaupt in ihre Wohnung kommt. Und das
sind ja auch Bürger unseres Landes, die unserer Aufmerksamkeit bedürfen.
Nordic Walking ist ja noch ein junger Sport – Gibt es dennoch schon
Erfahrungen mit typischen Verletzungen oder Schädigungen aufgrund falscher oder
übertriebener Ausübung dieses Sports?
Manche überlasten sich
Manche Leute überlasten ihren Kreislauf, die haben bis jetzt noch nie Nordic
Walking betrieben. Man sollte einen gewissen Herzfrequenzbereich einhalten. Wenn
der unterschritten wird, hat das Ganze keinen Trainingseffekt, wird er
überschritten, erhöht das den Milchsäurespiegel und schadet mehr als es nützt.
Für den richtigen Puls gibt es Faustregeln, aber man sollte es besser
sportmedizinisch austesten lassen. Wenn Sie das beherzigen, hat Nordic Walking,
so wie das Laufen, Schwimmen oder Radfahren, einen Sinn. Allerdings können durch
den Stockeinsatz bzw. durch Überlastung Muskeln und Gelenke geschädigt werden:
im Bereich der Schulter, im Ellenbogen oder im Handgelenk. Wir haben aber
einstweilen noch keine „Opfer“ des Nordic Walking, gravierende Fälle gibt es
nicht.
Sünden müssen gebüsst werden
Der Bewegungsapparat und der menschliche Körper insgesamt tolerieren ja sehr
lange, das ist auch unser Glück beim Alkoholkonsum, aber eines Tages kommt es
zum Zahlen. Eines sollte bedacht werden: Das gesunde Leben, wie es jetzt
gepredigt wird, wird nur dann positive Auswirkungen haben, wenn die Kontinuität
gewahrt wird. Nicht dass Sie jetzt vier Wochen einen Wellnessurlaub machen und
dann gehen Sie heim und essen wieder Ihr gewohntes Schmalzbrot, dann hat das
Ganze wenig Sinn. Das wichtigste ist Kontinuität.