Obwohl schon seit Jahrzehnten bekannt ist, dass manche körperfremde Stoffe das Hormonsystem von Mensch und Tier negativ beeinflussen können, wurden bis heute kaum gesetzliche Maßnahmen getroffen. Da ich hormonell schädigende Chemikalien (auch "EDCs" für Endocrine Disrupting Chemicals) für eine globale Bedrohung halte, versuche ich mich darüber auf dem Laufenden zu halten, das Wissen zu verbreiten und Stellung zu beziehen, wenn und wo ich es für sinnvoll halte - und wenn ich Zeit dazu finde. Dabei stelle ich immer wieder fest: Als eigentlich überzeugte Europäerin bin ich bei diesem Thema über die Vorgänge in der EU – insbesondere in der EU-Kommission – immer wieder enttäuscht und entsetzt.
Wo wir diesen Chemikalien heute begegnen können, und welche Auswirkungen sie haben können, beschreibe ich im Blog "Sorry, das waren NICHT die Hormone".
Wie die Industrie in Brüssel ihren Willen bekommt
Die EU-Kommission ist sehr säumig: Bereits 2013 sollten Verbote und Beschränkungen bei Pestiziden in Kraft treten, und seit 2015 Maßnahmen bei Kosmetika eingeführt werden – dies wurde sogar in den jeweiligen Gesetzen festgeschrieben. Als ein Lehrstück des Industrie Lobbying wurde in einem Spiegel-Artikel aus dem Jahr 2015 beschrieben, wie und warum es zu massiven Verzögerungen und Verharmlosungen kam.
Warnruf der Wissenschaft: Let’s stop the Manipulation of Science!
Die Studien zu diesen Chemikalien ergeben bereits seit Jahren beunruhigende Ergebnisse. So wird die sinkende Fruchtbarkeit in der westlichen Welt, das Steigen von hormongetriebenen Krebsarten wie Brust- und Prostatakrebs, aber auch vermehrtes Auftreten von Diabetes, ADHS und vielem mehr mit den EDC's in Verbindung gebracht. (Genaueres findet sich im Blog "Sorry, das waren NICHT die Hormone").
Da in der Gesetzgebung nicht darauf reagiert wurde, gab es immer wieder Warnrufe der Wissenschaft. So forderten über 100 anerkannte internationale Wissenschaftler Europa und die internationale Gemeinschaft Ende 2016 dazu auf, gegen EDC’s vorzugehen. Zugleich verdammten sie auch die Strategien der Erzeugung von Zweifeln, die die Industrie in der Klimawandel-Debatte anwendet. Le Monde, 30.11.2016
Im Schneckentempo…
Schon der erste Schritt für gesetzliche Maßnahmen, die Festlegung von wissenschaftlich eindeutigen Kriterien zur Identifizierung von hormonell schädigenden Chemikalien, wurde erst nach mühevollem Ringen erreicht. Hier hat die EU-Kommission die Frist mit Jänner 2013 verstreichen lassen, wofür sie im Dezember 2015 vom Europäischen Gerichtshof wegen Säumigkeit verurteilt wurde. Im Jahr 2018 traten diese Kriterien in den Gesetzgebungen für Pflanzenschutzmittel und Biozid-Produkte in Kraft; die Bewertung der eingesetzten Chemikalien bezüglich ihrer hormonell schädlichen Effekte wird wohl noch einige Jahre benötigen.
Die REACH-Verordnung ist gemeinsam mit der CLP-Verordnung ein Kern der allgemeinen EU-Chemikaliengesetzgebung. Hier wurden bisher ein paar einzelne Beschränkungen, etwa für Bisphenol A in Babyflaschen und einige Phthalat-Weichmacher zu über 0,1% in den meisten Konsumprodukten eingeführt. REACH regelt diese Chemikalien zurzeit hauptsächlich über die Identifizierung als besonders besorgniserregende Stoffe. Hierbei werden in aufwändigen Prozessen jene Chemikalien auf eine Liste gesetzt, die über kurz oder lang vom Markt verschwinden sollten. Diese Liste enthält zurzeit (August 2022) 224 Chemikalien, 7 können nachgewiesenermaßen sowohl das menschliche Hormonsystem als auch in der Tierwelt beeinträchtigen, 7 wurden als EDCs (nur) für die menschliche Gesundheit, 6 als EDCs (nur) für die Umwelt identifiziert. Einige wenige müssen für die Produktion zugelassen werden oder sind beschränkt oder verboten (s.o.). Für alle anderen gilt, dass sie ab 0,1% in Erzeugnissen deklariert werden müssen - professionellen Abnehmern bei der Lieferung, KonsumentInnen nur auf Anfrage. Diese Anfrage können Sie mit der Scan4Chem-App stellen. Es ist anzunehmen, dass das nur die Spitze des Eisberges an hormonell schädlichen Stoffen ist.
Bei den Kosmetika wird bis heute (Jänner 2021) lediglich evaluiert: Die zuständige Generaldirektion ist der EU jene für Binnenmarkt, Industrie, Unternehmen und KMUs (!). Sie hat Ende 2018 einen „Review“ veröffentlicht, der im Wesentlichen aussagt, dass die derzeitigen Maßnahmen ausreichend seien. Im Mai 2019 jedoch wurde eine Evaluation von 28 Chemikalien (Details dazu auf unserer Webseite) ins Leben gerufen, die bis jetzt noch nicht reguliert sind und für die ein begründeter Verdacht besteht, dass sie hormonell wirksam sind. Nun, Anfang 2021, wurden dazu noch keine weiteren Schritte oder Ergebnisse veröffentlicht.
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Hoffnung gibt die aktuelle EU Kommission in ihrem Green Deal. Es soll bis 2050 neben der Klimaneutralität u.a. auch Schadstofffreiheit in der EU erreicht werden. Dazu wurde der Zero Pollution Action Plan am 12.5.2021 veröffentlicht. Dabei stehen bestimmte Schadstoffe im Fokus, die in der Chemicals Strategy for Sustainability Towards a Toxic-Free Environment vom 15.10.2020 angekündigt und in einer Restrictions Roadmap under the Chemicals Strategy for Sustainability vom 25.4.2022 konkretisiert wurden. In diesen ambitionierten Strategien werden konkrete Maßnahmen zur Regulierung von hormonell schädlichen Chemikalien innerhalb der nächsten Jahre angekündigt. So soll auch - endlich – dafür gesorgt werden, dass neben weiteren bedenklichen Chemikalien, z.B. krebserzeugenden, auch hormonell schädliche Chemikalien nicht mehr in Konsumprodukten enthalten sein dürfen.
Im Zuge der derzeit laufenden Revision der REACH- und CLP -VO soll auch eine Einstufung für endokrin schädliche Eigenschaften von Chemikalien eingeführt werden. Die Einstufung als "gefährliche" Chemikalie zieht eine Reihe von Vorschriften nach sich, wie die Verpackung, Kennzeichnung, und allgemeine Beschränkungen und Verbote. Ähnlich wie bei krebserzeugenden Eigenschaften soll es dafür 2 Stufen geben: eindeutig nachgewiesene hormonschädliche Eigenschaften und Verdacht darauf.
Weitere Links
Allgemeine Informationen
- Deutsches Umweltbundesamt Endokrine Disruptoren | Umweltbundesamt
- WHO: Endocrine Disrupting Chemicals (2012). Kurzfassung: WHO_HSE_PHE_IHE_2013.1_eng.pdf
- ENDOCRINE SOCIETY Endocrine-Disrupting Chemicals | Endocrine Society
- EDC FREE Europe EDC-FREE Europe (edc-free-europe.org)
- ChemSec (THE INTERNATIONAL CHEMICAL SECRETARIAT) Endocrine disruptors (EDCs) – ChemSec
Hormonwirksame Chemikalien in Kosmetika
EU-KOMMISSION – Generaldirektion für Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU: Liste der 28 Stoffe, die im Rahmen der Kosmetikverordnung aufgrund ihrer potenziell hormonschädigenden Wirkung evaluiert werden Endocrine disruptors (europa.eu)
Zur Regulierung hormonwirksamer Chemikalien
EU-KOMMISSION – Generaldirektion Umwelt Endocrine disruptors - Chemicals - Environment - European Commission (europa.eu)
EU-COMMISSION – Generaldirektion für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit Überblick (europa.eu)
Zusammenstellung der Chemikalien, die in der EU als hormonell schädliche Chemikalien anerkannt oder in Bewertung sind (Dänische Umweltbehörde, im Auftrag der nationalen Behörden von Belgien, Dänemark, Frankreich, Niederlande, Spanien und Schweden) Endocrine Disruptor List (edlists.org)
Zum Vorschlag für die Einstufung hormonwirksamer Chemikalien nach der Chemikaliengesetzgebung
Einleitung, die offiziellen Dokumente, und Kommentare der Industrie.
Stellungnahme einiger NGOs
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